
Wenn Jérôme Reisacher, Cheftrainer der FC Bayern Frauen II, von Fußball erzählt, fangen seine Hände an mitzuspielen. Sie malen Bewegungen in die Luft, wie ein Torwart, der noch einmal eine Parade nachfühlt. Gleichzeitig leuchten seine Augen. Von den Tagen in Bremen, als er im Probetraining neben Claudio Pizarro, Marko Marin, Per Mertesacker und Sandro Wagner aufspielte. Von Felix Kroos und einem jungen Niklas Füllkrug, die im gleichen Kabinentrakt ihre Schuhe schnürten. „Das war schon eine besondere Zeit“, sagt er. „Da lernst du, was es heißt, Profi zu sein – und auch, was es braucht, um dorthin zu kommen.“
Zuvor, in Freiburg, durfte er täglich mit Spielern wie Julian Schuster und Jonathan Schmid trainieren. Sein Trainer damals: ein gewisser Christian Streich. Außerdem lernte er von Markus Sorg, dem heutigen Co-Trainer von Hansi Flick, sowie Thomas Wolter in Bremen und François Keller in Straßburg. Sie alle prägten ihn, jeder auf seine Weise. Vieles von dem, was Reisacher heute auf dem Trainingsplatz weitergibt, trägt Spuren dieser Erfahrungen.
Ein Kind des Elsass

Aufgewachsen ist Reisacher in Bischwiller, einer Kleinstadt unweit von Straßburg, zwischen Fachwerkhäusern und Feldern, dort, wo Frankreich sanft in Deutschland übergeht. Der Fußball kam nicht von Zuhause. „Meine Eltern hatten mit dem Sport nichts am Hut“, sagt er. Es waren Freunde auf dem Schulhof, die ihn mitrissen. Schaumbälle, Pausen, improvisierte Tore. „Wir haben einfach gespielt, stundenlang. Irgendwann hat mich ein Freund mit in den Verein genommen. So hat alles angefangen.“
Sein erstes großes Spiel erlebte er als Zuschauer: Racing Straßburg gegen die AS Monaco. Es war das erste Mal, dass er ein Stadion sah, das Dröhnen, die Fahnen, die Gesänge. Und dann im Tor: Fabien Barthez, der Glatzkopf mit den Katzenreflexen. Weltmeister, Europameister, eine französische Ikone. „Ich war fasziniert von ihm“, erinnert sich Reisacher. „Diese Ruhe, diese Verrücktheit. Er war anders als alle anderen. Da habe ich entschieden, dass ich Torwart werden will.“ Der Ball, die Linie, der letzte Mann. Das gefiel ihm.

Er begann in ortansässigen Vereinen, bevor der FC Herrlisheim ihn aufnahm. Ein Jahr später folgte das Nachwuchsleistungszentrum von Racing Straßburg – Internat, Schulunterricht, zweimal Training täglich. „Plötzlich war alles ernst. Ich war weit weg von der Familie, müde, aber glücklich.“ Hier lernte er, was Disziplin bedeutet. Mit 18 entschied er sich für den Schritt nach Deutschland, genauer gesagt zum SC Freiburg.
Im Breisgau spielte ierte er unter Christian Streich, dessen Haltung sein Verständnis von Führung prägte. „Er war laut, leidenschaftlich, fordernd – und immer menschlich.“ Reisacher trainierte mit Profis wie Oliver Baumann, Jonathan Schmid, Nicolas Höfler, Alexander Schwolow und Daniel Caligiuri. „Das war eine Schule fürs Leben, nicht nur für Technik.“ Die. Konkurrenz war aber groß, sodass der hohe Norden – genauer gesagt der SV Werder – rief.

Dort hießen seine Kollegen unter anderem Felix Kroos und Niklas Füllkrug. Das ein oder andere Mal trainierte er auch mit der ersten Mannschaft um Naldo und Co. „Ein wilder Haufen – ehrgeizig, laut, voller Energie.“ Doch dann stoppte ihn eine Knieverletzung. Ein halbes Jahr Reha, Zweifel, Gespräche ohne Ergebnis. „Da merkst du, wie schnell alles vorbei sein kann.“ Doch Reisacher kämpfte sich zurück, spielte in Havelse, Baunatal, Trier. Für die Eintracht stand er 2014 gar im DFB-Pokal im Tor – gegen Freiburg. „Ich kannte die Jungs, den Trainer, und plötzlich war ich auf der anderen Seite. Es war sehr emotional, aber auch schön.“
Neuorientierung und Freude am Lehren
Bei seinem letzten Verein als Profi, dem Bahlinger SC, fand er schließlich Stabilität: Spielen, Ausbildung im Lebensmittelgroßhandel, Vollzeitarbeit, abends Training. Parallel begann er, Torwarttraining zu geben. „Ich merkte, dass mir das Freude macht, nicht selbst im Mittelpunkt zu stehen, sondern andere besser zu machen.“ Mit Dennis Bührer als Trainer, seinem guten Kumpel, stieg Bahlingen schließlich gar in die Regionalliga auf. „Wir waren jung, hungrig, haben Nächte in der Kabine verbracht. Das war Fußball, wie ich ihn liebe.“

Und doch sollte die Laufbahn Reisachers nochmals eine andere Richtung einschlagen: 2019 rief Jens Scheuer an, den er aus Bahlingen kannte: Co-Trainer bei den Bayern-Frauen? Jérôme zögerte. Er hatte ein gutes Leben, eine feste Arbeit. Doch der Fußball zog wieder. „Meine Freundin sagte: Wenn du gehst, gehe ich mit.“ In München lernte er, wie professionell Frauenfußball auf höchstem Niveau funktioniert: Strukturen, Abläufe, Erwartungen. Alles präzise, alles eng getaktet. „Im Spitzenfußball geht es nicht nur um Training, sondern um Führung, Kommunikation, Vertrauen.“
Reisacher arbeitete als Assistent unter Scheuer, später unter Alexander Straus. Schon damals legte er einen besonderen Fokus auf die Entwicklung junger Spielerinnen, die zwischen der ersten und zweiten Mannschaft rotierten. Einige, die er begleitet hat, haben jenen Sprung geschafft. Alara Şehitler, Franziska Kett, Laura Gloning – Spielerinnen, die heute in der deutschen Beletage angekommen sind und auch durch seine Hilfe ihre ersten Schritte machten. „Wenn ich in ein paar Jahren auf die Bundesliga schaue und sehe: ‚Ah, die habe ich trainiert‘ – das ist mein Ziel“, sagt Jérôme. Es klingt nicht nach Stolz, eher nach purer Freude.
Zwischen Anspruch und Alltag

Heute ist Reisacher Cheftrainer der zweiten Mannschaft. Eine Schnittstelle zwischen Ausbildung und Bundesliga. Viele Spielerinnen sind 16, 17 oder 18, stehen mitten im Schul- oder Ausbildungsstress, träumen aber vom Profifußball. „Du siehst jeden Tag Entwicklung. Wenn eine Spielerin etwas, das sie im Training gelernt hat, im Spiel umsetzt – das ist für mich Erfolg. Gleichzeitig ist mir aber auch jeder Schritt in der persönlichen Entwicklung sehr wichtig.“ Mut und Vertrauen sind für ihn Schlüsselbegriffe. „Wenn du willst, dass Spielerinnen Risiko gehen, musst du ihnen Sicherheit geben.“ Seine Trainingseinheiten sind daher klar strukturiert, aber nie starr. „Ich versuche, Situationen zu schaffen, in denen sie Entscheidungen treffen müssen. Das ist der Kern moderner Ausbildung: selbstständig denken.“
Die Liga selbst ist voller Gegensätze: junge Talente gegen erfahrene Teams, hohe Intensität, oft kleine Mittel. „Du musst kreativ sein. Nicht immer perfekte Bedingungen, aber du kannst viel entwickeln. Wir haben Talent, Tempo, Mut. Die Aufgabe ist, sie an den Profifußball heranzuführen, ohne sie zu überfordern.“
Vertrauen, Haltung, Demut

Reisacher arbeitet eng mit der ersten Mannschaft zusammen. „Wenn eine Spielerin hochrückt, soll sie wissen, was sie erwartet – taktisch, mental, im Verhalten. Das ist unser Job: Brücken bauen.“ Warum er diese Aufgabe, diesen Job so liebt? „Weil ich etwas weitergeben kann“, sagt er. „Ich habe erlebt, wie schwierig es ist, nah dran zu sein und es trotzdem nicht ganz zu schaffen. Ich will meinen Spielerinnen zeigen, dass Erfolg nicht nur aus Titeln besteht.“
Er ist als Trainer laut, direkt, leidenschaftlich, kann aber auch ruhig, analytisch und geduldig sein. „Früher wollte ich alles kontrollieren. Heute weiß ich, dass Fehler dazugehören. Ohne sie gibt es keine Entwicklung.“ Auch privat ist er angekommen. Kurz vor seinem Amtsantritt als Cheftrainer der zweiten Mannschaft wurde er Vater. „Drei Wochen Unterschied. Das größte Glück überhaupt.“ Die langen Arbeitstage relativieren sich, wenn sein Sohn ihm entgegentaumelt.
Ein Trainer, der ankommt

Am Spielfeldrand dirigiert, leitet, ermutigt er. Zwischen den Linien liegt für ihn Bewegung, Verantwortung, Beziehung. „Ich sehe mich als Begleiter. Meine Aufgabe ist, den Spielerinnen Werkzeuge zu geben. Der Rest liegt bei ihnen.“ Die zweite Bundesliga ist ein Lernraum – für seine Spielerinnen und für ihn. „Man lernt nie aus“, sagt er. Geduld, Erfahrung und Leidenschaft prägen ihn seit dem Schulhof. Sein Weg verlief nie gerade: „Ich habe alles selbst erlebt, Verletzungen, Warten, Gespräche, wenn man nicht im Kader steht. Deshalb kann ich meine Spielerinnen verstehen.“
Heute steht Jérôme am Rand des Trainingsplatzes, beobachtet, korrigiert, schweigt. Man spürt, dass er an den Torwart von damals denkt, an die Trainingsplätze in Bremen, Straßburg und Freiburg. Aus all dem ist ein Trainer geworden, der weiß: Erfolg wird nicht in Tabellen gemessen, sondern in Menschen, die wachsen.
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