Ganz allein stand sie da, fast verwaist. Und so konnte Siegfried Herrmann gar nicht anders. Der heutige Ehrenpräsident des FC Bayern nahm sich der Dame an, obwohl die Art, in der er sie „ins Hotel schleifte, auf der Achsel wie einen Mehlsack, gefühlsmäßig etwas achtlos war“. Ein Casanova, der damalige Vize-Präsident? Nun ja, die „Dame“ hieß Viktoria, und sie war nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Bronze.
Diese Sätze stehen geschrieben in den Club-Nachrichten des F.C. Bayern E.V. München aus dem Juli 1932. 64 Seiten sind diese lang, aber es gab auch viel zu berichten. Gut ein Drittel des Blattes widmet sich der ersten Deutschen Meisterschaft unseres Vereins, gewonnen am 12. Juni 1932 nach dem 2:0 im Endspiel gegen Eintracht Frankfurt. Die Feierlichkeiten des Teams von Trainer Richard Dombi stiegen damals im Final-Ort Nürnberg in der „Sebaldusklause“, aber bevor die Mannschaft um Kapitän Konrad Heidkamp sich von den öffentlichen Feierlichkeiten loseisen konnte, nahm sich Herrmann eben der Viktoria an. 24,6 Kilo schwer, 75 Zentimeter hoch (mit Sockel sogar 102 Zentimeter) ist die Trophäe, die der Deutsche Fußballmeister zwischen 1903 und 1944 verliehen bekam. Herrmann hatte also tatsächlich zu schleppen, als er die „Vicki“, wie die Bayern-Spieler sie liebevoll nannten, ins Zimmer von Präsident Kurt Landauer brachte. „Dort zog man ihr das Nachthemd unseres Kurt an und legte sie in dessen Bett. Mit ihrem kleinen bronzenen Köpfchen nahm sie sich wirklich ganz allerliebst in den weißen Linnenkissen aus.“ Ein Bild für die Götter muss das gewesen sein.
Die Anekdoten rund um die erste der bisher 29 Meisterschaften sind herrlich, und vor allem sind sie detailliert. Eine eigene Krügelrede wurde gehalten, im Gedicht „Dem Meister“ von Kurt Steinacker heißt es: „In Eintracht ist Euch nun gelungen, Im wack’ren Kampf voll Willenskraft, In dem wie Löwen ihr gerungen: Viktoria, die Meisterschaft.“ Zum fünften Mal nacheinander hatte der FC Bayern 1932 die südbayrische Meisterschaft gewonnen, es folgte die Krönung. „Jahrzehntelang ein Traum – heute stolze Wirklichkeit“ war der Titel der Club-Nachrichten. Dieser Erfolg wurde in vollen Zügen genossen. Und immer mittendrin: Die Viktoria, die Vorgängerin der Meisterschale.
Verschollen, versteckt: Die Viktoria hat viel zu erzählen
Geht man heute durch das FC Bayern Museum, funkelt es auf der „Via Triumphalis“ in Gold und Silber. Die Titelsammlung des deutschen Rekordmeisters ist imposant und wird beim Blick auf jeden einzelnen gewonnenen Pokal – alle sind als originalgetreue Repliken in der Dauerausstellung zu sehen – greifbar. Selbst Arjen Robben und Franck Ribéry, das Duo, das die Schale der bisher letzten gewonnenen Meisterschaft vor rund einem Jahr als Boten in unser Museum brachte, war beeindruckt. Die beiden Flügelspieler schritten vorbei an 27 Schalen, sie passierten aber auch die Viktoria. Gleich am Eingang des Museums thront sie, die römische Göttin des Sieges. Die ästhetische Versinnbildlichung des Erfolges. Und sie hat viel zu erzählen.
Die nette Anekdote im Schlafrock ist im Vergleich zu dem, was die Viktoria im fast gesamten 20. Jahrhundert durchgemacht hat, nichts weiter als eine Randnotiz. Seinen Anfang nahm alles im Jahr 1900. Weil in der Reichskasse nach den Olympischen Spielen in Paris tatsächlich ein Überschuss entstanden war, profitierte der Deutsche Fußballbund. 1000 Mark wurden zurückbezahlt, 650 Mark aber für vier „Weltausstellungspreise“ in die Hand genommen. Diese gingen als Geschenke an die deutsche Abteilung des Deutsch-Österreichischen Fechterbundes, die Deutsche Sportbehörde für Athletik, den Deutschen Schwimmverband und den DFB. Zwar hatten keine Fußballer an den Olympischen Spielen teilgenommen, aber das deutsche Rugby-Team. Und das zählte damals auch zum Dachverband des Fußballs.
Die Grundidee wies die Viktoria als Wanderpreis für den Deutschen Rugby- und Fußballmeister aus, Jahr für Jahr sollte getauscht werden. Weil der DFB im Oktober 1902 aber alle Bestimmungen über das Rugbyspiel aus seiner Satzung strich, wurde die Viktoria nie einem Rugby-Team verliehen. Der VfB Leipzig hielt ihn 1903 als erste Mannschaft in den Händen, die Bayern freuten sich 1932. 1944 schließlich, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nahm der Dresdener SC die Viktoria in Empfang. Ab dann begann eine Odyssee.
Die „Provinzposse“ fand erst 1992 ein Ende
Die Reise der Viktoria, so weiß man es allerdings seit der Wiedervereinigung, war lang. Zunächst soll sie ein Gärtner – glühender Dresden-Fan – versteckt haben, sie landete aber über Umwege in Ost-Berlin, wo sie unter staatliche Kontrolle gestellt und als Relikt des bürgerlichen Sports in die Asservatenkammer verbannt und versteckt wurde. Die Lager-Bedingungen im „Kohlekeller“ des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport waren miserabel, sogar ein Flügel der Viktoria brach zwischenzeitlich ab. In der Bundesrepublik galt sie unterdessen offiziell als verschollen. Der 1. FC Nürnberg musste 1948 als erster Deutscher Meister nach dem Krieg auf eine Trophäe verzichten. Seit 1949 gibt es die Meisterschale, die erstmals an den VfR Mannheim vergeben wurde.
Lange war es ruhig um die Viktoria, die übrigens ursprünglich „Victoria“ geschrieben wurde. Das allerdings sollte sich nach der Wende ändern. Denn zu Beginn der neunziger Jahre brach ein regelrechter Streit darüber los, wem die Viktoria gehöre. Der Fußballverband der DDR hatte im Auftrag des DFB um die Herausgabe der wertvollen Trophäe gebeten, das Land Berlin und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz aber wollten auch ein Wörtchen mitreden. Nacht- und Nebelaktionen, ein Transport in einer Holzkiste sowie Wochen voller Ungewissheit folgten. Natürlich spielte auch der politische Ost-West-Aspekt eine Rolle, Klarheit gab es erst im Januar 1992, als der Berliner Senat beschloss, die Viktoria in den Bestand des DFB zu überführen. Der SID schrieb damals: „Ende einer Provinzposse.“
Der DFB ist der rechtmäßiger Besitzer
Eine Besitzurkunde aus dem Jahr 1925 hatte den DFB 66 Jahre später als rechtmäßigen Besitzer ausgewiesen; die Übergabe erfolgte im Rahmen des Pokalfinals 1992. Inzwischen ist die Viktoria freilich restauriert und im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund im Original zu bestaunen. Im FC Bayern Museum steht sie als Faksimile von 1932. Die Plakette mit dem damaligen Spielerabzeichen des FC Bayern ist gut zu erkennen. Am Original werden seit 1993 wieder die Deutschen Fußballmeister mit einem Vereinsemblem verewigt.
Es ist also nicht bei der einen Bayern-Plakette geblieben, die 1932 angebracht wurde. Und trotzdem haben die Spieler unseres Vereins in diesen Tagen mit der Original-„Vicki“ doch die schönsten Geschichten erlebt.
Copyright Fotos Viktoria: Felix Brandl