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FC Bayern Museum: Infos, Tickets, Ausstellungen

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Die Welt ist ein Ball

Seine großen Titel holte Dettmar Cramer in den 1970er Jahren mit dem FC Bayern. Der „Fußball-
Professor“ hinterließ aber in allen Winkeln der Erde Spuren. Wie sehr sein Leben dem runden Leder gehörte, zeigt die Arbeit mit seinem Nachlass im FC Bayern Museum.

 

Das riesige Whiteboard, vor dem Rebekka Dietz in ihrem Büro in der Allianz Arena sitzt, ist locker fünf Meter lang. Aber den Platz kann sie gut gebrauchen. Fein säuberlich, untergliedert in die Kontinente der Erde, hat die Mitarbeiterin des FC Bayern Museums seit November des vergangenen Jahres eine Liste von Ländern angefertigt, die mittlerweile selbst kundige Geografen beeindruckt. Mehr als 80 Staaten stehen schon an der Wand, sie reichen von Tansania über Lesotho, Honduras, Bangladesch und Albanien bis hin zu
Fidschi und Guyana. Und es gibt einen Mann, der sie tatsächlich alle bereist hat.

„Es ist, als würde man ihm jeden Tag über die Schulter schauen“, sagt Rebekka Dietz über die Arbeit, der sie seit einigen Monaten nachgeht. Mit „ihm“ meint die 25-Jährige Dettmar Cramer. Den Mann, der mit dem FC Bayern als Trainer zweimal den Europapokal der Landesmeister sowie den Weltpokal gewonnen hat – sein Name ist in der Welt des Fußballs aber nicht nur wegen dieser Erfolge ein großer. Cramer war Vordenker und Botschafter, Missionar und Lehrer, manch einer nannte ihn „Fußball-Professor“. Dietz hat den Nachlass Cramers bis ins kleinste Detail durchforstet, ausgewertet und erfasst. Sie sagt: „Er hat in jedem Land etwas gelernt –und jedem Land etwas gebracht.“

 

Eine Ladung „Überraschungseier“

Rückblick: 2016 fährt an der Allianz Arena ein großer Umzugswagen vor. Bepackt mit 50 Kartons und einer blauen Samtkiste, alles voller echter Fußballschätze. Er kommt aus Reit im Winkl, Cramers langjährigem Wohnort, rund 130 Kilometer hat er also hinter sich gebracht, ehe sich die Ladefläche absenkt und die Fracht entladen wird. Sie wird ins Archiv des FC Bayern Museums gebracht, die Freude ist groß – aber es dauert, ehe die Kartons komplett ausgeräumt werden können. Der Museumsalltag ist voll. Neben der Weiterentwicklung der Dauerausstellung, der Konzeption von wechselnden Sonderausstellungen und diversen anderen Projekten ist kaum Zeit. Die aber braucht man, um das Leben und Wirken von Dettmar Cramer zu rekonstruieren. Dietz, die sich mit Sammlungen auskennt, wurde speziell für dieses Projekt gewonnen.

Die Kartons ihres Mammutprojekts nennt sie liebevoll „Wundertüten“ oder „Überraschungseier“. Sie beinhalten wirklich alles, was einst im Arbeitszimmer von Cramer aufbewahrt war: von kleinen Notizzetteln über eine umfassende Bibliothek, von eigens geschriebenen Reden über Ehrengaben aus der ganzen Welt, von Reisepässen über private Briefe und Widmungen. Dietz selbst hat ihren Bachelor in Museologie und Geschichte absolviert, die tägliche Arbeit ist für sie wie ein kleines Zusatzstudium in Geografie und Sportgeschichte. Dazu pflegt sie „die größte Excel-Tabelle, die ich je gesehen habe“.

Rund 1.300 einzelne Objekte wurden seitens des FC Bayern von Cramers Erbberechtigten abgelöst. Sie alle sind nun erfasst, die meisten erzählen eigene Geschichten. Die Liste der Länder beispiels-weise, in denen Cramer gelebt und gearbeitet hat, kann lückenlos mit Exponaten belegt werden. Cramer selbst sprach zu Lebzeiten von 90 Ländern, man kann ihm das abnehmen. Auf sein Wirken war der langjährige Assistent von Bundestrainer Sepp Herberger so stolz, dass er falsche Zahlen in Zeitungsartikeln stets durchstrich und durch eine „90“ ersetzte. Auch diese kleinen Papierfetzen sind in den Kisten zu finden, weggeworfen wurde im Hause Cramer nichts. „Mit Ehrfurcht“, sagt Dietz, sei sie an die Arbeit gegangen. „Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, genau zu wissen, wie Dettmar Cramer getickt und was ihn angetrieben hat.“

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Weltenbummler: Ein korinthischer Helm, Bücher, Fotos und ein Stapel Reisepässe zeugen von Dettmar Cramers Lebensweg.

Fußballexperte und Saunameister

Da wäre vor allem die Liebe zu jenem Sport, der ihn selbst im Zweiten Weltkrieg positiv nach vorne schauen ließ. Schon bevor er als Oberleutnant der Fallschirmjäger diente, hatte er bei einem Jugendlehrgang Sepp Herberger kennengelernt. Der langjährige Bundestrainer schrieb Cramer – so im Nachlass zu finden – sogar Feldpost und schürte die Vorfreude auf den Fußball nach Kriegsende. Herberger wurde Vorbild und Förderer zugleich, Cramer assistierte ihm, genau wie später Helmut Schön. Er brachte viel Input, hörte aber nie auf, selbst zu lernen. Dietz sagt: „Wenn etwas noch besser werden konnte, war es für Cramer nicht gut genug.“ Der Fußball konnte an so vielen Ecken der Erde noch besser werden, Cramer wollte dabei helfen. Wie viele Flugmeilen er gesammelt hat, kann selbst die Expertin nicht genau beziffern. Immerhin aber hat Rebekka Dietz mehrere Urkunden von Fluggesellschaften entdeckt. Cramer hat Ozeane und den Äquator überquert – und an den Orten, wo er mal ein paar Wochen, mal ein paar Monate blieb, hat er etwas geschafft.

Über den Westdeutschen Fußballverband und den DFB führte sein Weg zur FIFA, wo er ab 1967 als „Entwicklungshelfer“ angestellt war. Cramer nahm seine Sache ernst und hatte viel Erfahrung im Gepäck. Als Spielertrainer und Trainer hatte der gebürtige Dortmunder nicht nur Fußball-Herren gecoacht, sondern sich auch in der Jugend, bei den Senioren, im Frauenfußball und -handball sowie bei den Schiedsrichtern einen Namen gemacht. Eine besondere Zusatzqualifikation hatte er bereits im Jahr 1950 erworben. „Cramer war zertifizierter Saunameister“, erzählt Dietz. Für Regeneration konnte der Weltenbummler also selbst sorgen.

Ohnehin hatte Cramer nicht nur Interesse am Spiel auf dem Platz, sondern am Fußball in seiner gesamten Komplexität. Von Erziehung über Psychologie bis hin zu Kunst und Ernährung weist seine Bibliothek – diverse Bücher aus ihr hat er selbst verfasst – alles auf, zahlreiche Werke gibt es zudem in diversen Sprachen. Vor allem das Übersetzungsprogramm in Japanisch musste Dietz in den vergangenen Monaten oft bemühen. Denn im Land der aufgehenden Sonne gilt Cramer, der als Berater großen Anteil an der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko hatte, als Begründer des modernen Fußballs. Seit 2005 ist er Mitglied in der Ruhmeshalle des japanischen Fußballs. In seinem Nachlass ist unter anderem ein nachgebildetes Samurai-Schwert zu finden.

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Verehrt und beschenkt: In Japan hat sich Cramer besondere Verdienste um den Fußball erworben.

Freunde fürs Leben in München

Cramer hat diverse Ehrengaben gesammelt, sein Erfolg auf der ganzen Welt ist nicht in Titeln messbar. Denn hätte er die haben wollen, hätte er auch einen gemütlicheren Weg wählen können. Einst lehnte er unter anderem ein Angebot von Schalke 04 ab. Länger hielt es ihn in der Bundesliga lediglich beim FC Bayern (Januar 1975 bis Dezember 1977) und bei Bayer Leverkusen (1982 bis 1985). Die Sehnsucht nach der weiten Fußballwelt war groß, selbst ein zwischenzeitliches Engagement als Journalist beim ZDF war Cramer zu langweilig. Als Nationaltrainer blieb er nach Japan auch länger in Ägypten, den USA und Saudi-Arabien.

Die Bayern haben den „laufenden Meter“, wie Sepp Maier Dettmar Cramer nannte, in guter Erinnerung behalten. Auch wenn sein Engagement im Jahr 1977 mit einem Trainertausch gegen Frankfurts Gyula Lóránt endete, wirkte sein Ansatz, den Menschen hinter dem Spieler zu sehen, lange nach. Bis zu seinem Tod im Jahr 2015 war er nicht nur sportlich topfit, sondern pflegte auch diverse enge Freundschaften. Unter anderem standen ihm Karl-Heinz Rummenigge und Franz Beckenbauer nahe, mit dem er sogar gemeinsam einige Bücher verfasst hat. Zahlreiche Grußworte des „Kaisers“ sind im Nachlass zu finden, er schrieb auch zur Hochzeit.

Apropos Hochzeit: Kam die Liebe in diesem Weltenbummler-Leben zu kurz? Rebekka Dietz schüttelt den Kopf. „Seine Frau war die meiste Zeit mit auf Reisen“, sagt sie, bevor sie sich wieder in die Kisten und ihre Excel-Tabelle vertieft. Ein paar Länder gibt es bestimmt noch zu entdecken in diesem Projekt der besonderen Art. „Und für ‚Stadt, Land, Fluss‘ bin ich jetzt gerüstet wie noch nie zuvor.“

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