Es war kein besonders weiter Satz, doch für Oliver Kahn war es der Sprung seines Lebens. Er entschied sich für die rechte Ecke, streckte beide Fäuste über den Kopf und hatte den Ball - dann war er nicht mehr zu halten. Er rannte auf und davon, schrie seine Freude hinaus, streckte die Arme jubelnd in den Himmel und wurde unter seinen Mitspielern begraben. Auf der Ehrentribüne hüpfte Franz Beckenbauer vor Glück; Stefan Effenberg nahm den Henkeltopf in Empfang und stemmte ihn stolz in den Mailänder Nachthimmel; die Spieler ließen Ottmar Hitzfeld und Uli Hoeneß hochleben; Sammy Kuffour kniete jubelnd mit dem Pokal im Tor vor der FCB-Fankurve; Bixente Lizarazu stülpte sich den Pott über den Kopf…
Die Bilder sind lebendig wie eh und je, dabei wird der Champions-League-Triumph des FC Bayern von Mailand an diesem Montag zehn Jahre alt. Am 23. Mai 2001, im San-Siro-Stadion, erlebte der deutsche Rekordmeister die größte Nacht seiner jüngeren Vereinsgeschichte. 25 Jahre nach dem letzten Gewinn Königsklasse waren die Bayern endlich wieder „die Könige Europas“, wie die Bild-Zeitung damals titelte. Schon beim Einlaufen der Mannschaften hatten die Fans mit ihrer Choreographie voll ins Schwarze getroffen. „Heute ist ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben!!!“, hatten sie den Spielern mit auf den Weg gegeben.
Was für ein Abend! Was für ein Spiel! Was für eine Mannschaft! Kahn im Tor; Kuffour, Andersson und Linke in der Dreier-Abwehrkette; Sagnol und Lizarazu auf den Flügeln; Scholl, Effenberg, Hargreaves und Salihamidzic im Mittelfeld; Elber vorne; Jancker, Sergio und Zickler wurden später noch eingewechselt - das sind die Helden von Mailand, aufgestellt von Ottmar Hitzfeld. 5:4 rangen sie den FC Valencia im Elfmeterschießen nieder, nach 90 und 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden. In einem denkwürdigen Spiel, das bis zur Entscheidung insgesamt 17 Elfmeter erlebte.
Scholl verschießt
Den ersten schon nach drei Minuten. Patrick Andersson lag im Strafraum auf dem Boden und bekam den Ball an die Hand, Schiedsrichter Dick Jol (Niederlande) pfiff: Strafstoß - eine sehr fragwürdige Entscheidung. Mendieta verwandelte. Wütende Angriffe der Bayern waren die Antwort. Und schon vier Minuten später pfiff Jol erneut, diesmal war es eine klare Sache: Angloma hatte Stefan Effenberg zu Fall gebracht - Elfmeter! Mehmet Scholl schoss, Valencia-Keeper Canizares parierte mit den Beinen.
Diese vergebene Chance zum Ausgleich verunsicherte die Bayern nicht. „Es waren ja noch über 80 Minuten zu spielen“, sagte Effenberg. Thomas Linke erinnerte im Rückblick auch an die bittere Final-Niederlage in Barcelona zwei Jahre zuvor: „Wir hatten aus dem Spiel 1999 gelernt, dass man immer die Chance hat, ein Spiel noch zu drehen.“
Effenberg trifft
So traten die Bayern dann auch auf. Sie machten das Spiel, Valencia war fast nur in der Defensive und fünf Minuten nach der Halbzeit hatten sie erneut die große Chance zum Ausgleich. Nach Carbonis Handspiel entschied Jol zum dritten Mal auf Strafstoß. „Es gab nur einen, der den schießen konnte“, meinte Linke. Und der trat dann auch zum Punkt: Effenberg. „Ich wusste: Wenn ich den verschieße, werden wir nicht mehr zurückkommen“, erinnerte sich Effe. Doch der FCB-Kapitän war „absolut überzeugt: Den mache ich rein.“ Er traf sicher zum 1:1 und ballte die Faust.
Danach blieben die Bayern das bessere Team, weitere Tore fielen in der regulären Spielzeit aber nicht mehr. Auch nach der Verlängerung (damals mit Golden-Goal-Regelung) gab es keinen Sieger. Die Entscheidung musste vom Elfmeterpunkt fallen. Sergio trat als Erster an und verschoss. Auch Andersson brachte den Ball nicht im Tor unter. „Da habe ich gedacht, da kannst du nie mehr zurückkommen. Das war fast tödlich“, sagte Hoeneß damals. Doch es gab ja Oliver Kahn. Der FCB-Keeper war „wie im Rausch. Ich war in einem Trance-Zustand und habe um mich die Zuschauer nicht wahrgenommen“, erzählte er später. Kahn parierte gegen Zahovic, Carboni und Pellegrino - und dann begann die vielleicht größte Partynacht in der Geschichte des FC Bayern.
'Jetzt ist er da!'
In München, wo 35.000 Fans das Finale auf einer Großleinwand im Olympiastadion verfolgten, machten mehr als 10.000 Fans auf der Leopoldstraße die Nacht zum Tag. In Mailand feierten die Bayern - viele in Lederhosen - bis 7 Uhr morgens. Quasi ohne Schlaf traten sie dann die Heimreise an. Um 13 Uhr landete der Flieger mit den Helden von Mailand, die sich durch hunderttausende Fans im Autokorso den Weg zum Marienplatz bahnten. „25 Jahre - jetzt ist er da!“, rief Kahn vom Rathausbalkon der „roten Masse“ entgegen und reckte den Silberpokal hoch.
„Ob Weltmeister, Europameister oder deutscher Meister, so was habe ich noch nie erlebt“, staunte Präsident Franz Beckenbauer über die Begeisterung der Fans. Ein Spieler nach dem anderen ließ sich auf dem Balkon mit dem Pokal feiern, das Weißbier floss in Strömen. Grenzenloser Jubel nach einem unvergesslichen Triumph. Salihamidzic sagte anlässlich des zehnjährigen Jubiläums: „An diesen Abend von Mailand, dieses Spiel, das Elfmeterschießen denke ich jeden Tag.“
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