Die Tränen, sie kullerten einfach, und Ottmar Hitzfeld ließ sie laufen. Der Applaus von 69.000 Menschen, ein rot-weißer Blumenstrauß und dazu dieses Gefühl, das er als eine Mischung aus „Druck und Erleichterung“ beschreibt, waren überwältigend. In diesem Moment am 17. Mai 2008 wusste der scheidende Bayern-Trainer: „Das hier ist endgültig.“ Erst kamen die Tränen, „dann kam Kalle, dann kam Uli“ – und auch die Klubbosse hatten feuchte Augen. Wer kann schon von sich behaupten, ein ganzes Stadion zur Rührung gebracht zu haben?
Es ist ja nicht so, als habe Ottmar Hitzfeld in seiner Karriere nicht unzählige andere Bilder produziert, die im Gedächtnis geblieben sind. Da ist zum Beispiel die beeindruckende Sammlung von sieben Deutschen Meisterschaften, drei DFB-Pokal-Siegen, zwei Champions League-Titeln sowie dem Weltpokalsieg, von Triumphen also, die alle ihre eigenen Geschichten erzählen. Und trotzdem hat man, wenn man anlässlich seines 70. Geburtstag am 12. Januar zurückblickt, erst einmal die letzte Szene im Kopf, die seine Amtszeit in München zu bieten hatte. Die, in der nach zwei Engagements von zusammen acht Jahren (1998 bis 2004, 2007 bis 2008) ein für alle Mal Schluss war beim FC Bayern. Die, in der man wusste, dass man diesen Mann vermissen wird.
„Ich bin sehr stolz, dass ich Trainer des FC Bayern war, mir hat dieser Job unheimlich viel Spaß gemacht“, sagt Hitzfeld heute, mit Abstand, als Pensionär. Die Reise aus dem beschaulichen Lörrach nach München hat der ehemalige Stürmer gerne auf sich genommen, überhaupt ist er regelmäßig in der bayerischen Landeshauptstadt, um seinen Sohn und bald drei Enkel zu besuchen. Diesmal ist er gekommen, um dort vorbeizuschauen, wo er jahrelang ein und aus ging. An der Säbener Straße dreht sich das große Geburtstags-Interview mal nicht – wie so oft als angesehener Experte der Fußballbranche – um andere, sondern ausschließlich um ihn selbst. Eine ungewohnte Rolle für einen Trainer, der nie als Exzentriker aufgetreten ist, sondern für seinen ruhigen, bedachten Führungsstil geschätzt wurde.
Franz Beckenbauer hat es geahnt: Hitzfeld wird der nächste Bayern-Trainer
Mit Hitzfeld über seine Vita zu reden, das heißt, zahlreiche Meilensteine in der Geschichte des FC Bayern zu beleuchten. Denn schon Franz Beckenbauer ahnte, als er den damaligen Sportdirektor von Borussia Dortmund im Frühjahr 1998 mit den Worten „Ottmar, du bist der nächste Bayern-Trainer“ anredete, dass der sachliche Analytiker eine Art Erfolgsgarant ist. Als der Satz ausgesprochen wurde, musste Hitzfeld noch schmunzeln, dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Die Stichpunkte, die Hitzfeld heute zu seiner Verpflichtung bringt: „Giovanni Trapattoni, Wutrede – und dann ging es schnell.“ Genau wie am Verhandlungstisch mit Beckenbauer, Uli Hoeneß und Karl Hopfner.
München war anders als Dortmund, aber für Hitzfeld, aufgewachsen in bürgerlichen Verhältnissen als jüngstes von vier Kindern einer Zahnarzt-Familie, fühlte es sich gut an. „Das Innenleben dieses Vereins zu erleben, die vielen Persönlichkeiten, die Bayern-Familie, das Mia san Mia“, dies alles habe ihn bis ins Alter geprägt, sagt er. Zumal der studierte Mathematik- und Sportlehrer beim FC Bayern eine Mannschaft übernahm, in der „immer ein bisschen Theater war“. Der Beiname „FC Hollywood“ stammt aus jener Zeit, in der die großen Erfolge unter Hitzfeld gefeiert wurden. Denn die Mannschaft um Kapitän Stefan Effenberg, Welttorhüter Oliver Kahn, Giovane Elber, Mehmet Scholl und Bixente Lizarazu „war eine Einheit und lebte von ihrer festen Achse“. Scholl nannte Hitzfeld einst „den besten Trainer, den ich je hatte“, überhaupt hat er zu den allermeisten seiner ehemaligen Spieler noch heute ein gutes Verhältnis. Obwohl er auch mal „tobte, hohe Geldstrafen verteilte“. Das gehörte eben dazu.
Die Erfolge kamen schrittweise, Hitzfeld – übrigens benannt nach Fritz Walters Bruder Ottmar – prägte eine Ära, von der man bis heute gerne spricht. Sei es von den dramatischen Meisterschafts-Entscheidungen 2000 (als Unterhaching gegen Leverkusen führte, „haben wir nur noch gegrinst“) und 2001 („Nach Patrik Anderssons Freistoß erlebten wir eine Gefühlsexplosion“) oder bei den großen Endspielen in der Königsklasse. Die Niederlage 1999 gegen Manchester United bezeichnet Hitzfeld als „bitterste meines Lebens. Das war brutal. Ich war am Boden zerstört.“ Sie führte bei allen Beteiligten aber auch dazu, den Antrieb für den Erfolg zwei Jahre später zu finden. Hitzfeld nennt als eine persönliche Stärke, dass er „immer nach vorne blicken kann. Man muss positive Ansätze sehen, wenn man Menschen zum Ziel bringen möchte.“ An jenem 23. Mai 2001, nach dem 5:4 im Elfmeterschießen gegen den FC Valencia, waren die Bayern am Ziel ihrer Träume.
Doch nicht nur Titel und Trophäen blieben aus der beeindruckenden Trainer-Vita, die erst nach 31 Jahren und der WM 2014 als Schweizer Nationaltrainer endete. Hitzfeld gewann Sympathien über seine Stationen (Zug, Aarau, Grasshoppers Zürich, Dortmund, FC Bayern, Schweiz) hinaus, weil er immer war, wie er heute noch ist. Ein Gentleman, loyal, höflich, und trotzdem ein Fachmann mit harter Hand. Wenn der heutige Sportdirektor Hasan Salihamidzic durch die FC Bayern Erlebniswelt spaziert, zieht es ihn regelrecht zu seinem Ex-Coach. Der Trenchcoat in der Champions League-Vitrine des Vereinsmuseums sieht tatsächlich so aus, als habe Hitzfeld ihn gerade noch getragen. Und auch der Taktikzettel der „magischen Nacht von Mailand“ ist nach wie vor bestens zu lesen.
Hitzfeld, den Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge als „den größten Gentleman, den ich in diesem Sport je erlebt habe“ bezeichnete, zerbrach sich vor jedem Spiel den Kopf – und er gibt zu: „Ich war auch immer sehr angespannt.“ Was man ihm oft nicht ansah, arbeitete in ihm, so sehr, dass es ihm an die Substanz ging.
In der Retrospektive bereut er es, nicht bereits 2003 erstmals als Bayern-Trainer aufgehört zu haben, „für meine Gesundheit wäre es besser gewesen“. So musste er sich ab 2004 daheim im Schwarzwald von einem Burnout-Syndrom erholen – bis die Bayern wieder anklopften. Die Entscheidung, 2007 noch einmal zurückzukommen, fällte er ad hoc auf der Skipiste in Engelberg. „Hätte ich eine Nacht drüber geschlafen, hätte ich abgesagt“, erzählt er heute lachend. So aber holte er 2008 noch einmal das Double und sammelte Kraft für das finale Engagement in der Schweiz. Sechs Jahre lang führte er die „Nati“ der Eidgenossen, ehe er sich vor knapp fünf Jahren endgültig zurückzog. Dorthin, wo er heute rundum glücklich ist.
Mit 70 auf dem Programm: Golf, Ski, Reisen – und vor allem Familie. „Ich danke Gott jeden Tag für das Leben, das ich führen darf“, sagt er über seinen Alltag, den er als „vollkommen stressfrei“ bezeichnet. Hitzfeld macht das, was ihm guttut und bleibt dabei seiner Linie treu. Zum Geburtstag wird es unaufgeregt zugehen, große Feiern zu seinen Ehren waren noch nie sein Ding.
Einen dicken Blumenstrauß wird es vielleicht trotzdem geben. Womöglich auch ein paar Freudentränen. Und mit Sicherheit: Eine große Bayern-Familie, die von ganzem Herzen gratuliert. Der FC Bayern wünscht alles Gute!
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