Die französische Achse hat Tradition beim FCB: Vor dem Champions League-Kracher gegen Paris hat sich das Club-Magazin „51“ auf die Suche nach den Wurzeln der FCB-Spieler gemacht, die in der französischen Hauptstadt aufgewachsen sind. Was macht die Talente der „Grande Nation“ so stark?
So ganz zufrieden ist Joel mit der Leistung seiner Schützlinge nicht. „Accélérez, accélérez“, ruft er den Jungs entgegen, sie sollen das Spiel beschleunigen, schnellere Pässe spielen, schneller sein im Kopf. Gar nicht so leicht an diesem stürmischen Pariser Wintertag; der Regen peitscht Trainer wie Spielern ins Gesicht. Joel, ein schmaler junger Mann, hat die Kappe tief ins Gesicht gezogen, die Hände im Regenmantel versteckt. Seine Spieler aber, die U10-Mannschaft des Vereins US Sénart-Moissy in der Pariser Vorstadt, jauchzen vor Freude. Schneller und schneller läuft der Ball, in den kleinen Köpfen keine Kälte, sondern nur der Spaß am Fußball und der Traum, es in dieselben Höhen zu schaffen wie der berühmteste Sohn des Vereins. Auf den Fußballplätzen von Moissy Cramayel, etwa 45 Zugminuten vom Pariser Zentrum entfernt, hat Kingsley Coman den Sport lieben gelernt: Im Alter von sechs bis neun Jahren stürmte er im blau-gelben Trikot von Sénart-Moissy. Als die französische Nationalmannschaft während der WM 2022 in Katar ein Mannschaftsfoto aufnimmt, in dem alle Spieler die Trikots ihrer Heimatvereine tragen, sitzt Coman in der ersten Reihe, das Logo von US Sénart-Moissy auf der Brust.
Les Bleus bei den Roten
Französische Spieler sind beim FC Bayern seit Jahrzehnten eine Säule. Von Bixente Lizarazu und Willy Sagnol bis zu Franck Ribéry: Bei den großen Erfolgen der letzten Jahrzehnte stand fast immer ein Franzose in der Startelf. Aber noch nie waren „Les Bleus“ bei den Roten so stark vertreten wie aktuell: Kingsley Coman, Dayot Upamecano, Lucas Hernández, Benjamin Pavard, Mathys Tel – gleich fünf Franzosen spielen beim FCB, alle mit tragenden Rollen oder großem Versprechen. Auch wenn die Grande Nation das WM-Finale 2022 verloren hat: Frankreich gehört ohne Zweifel zu den besten Fußballnationen der Welt. Was macht sie so stark? Warum schafft gefühlt jedes Jahr ein neues Supertalent aus der Ligue 1 den Sprung in die Fußballelite?
„Mathys hat seine Wurzeln nicht vergessen.”
Éric Campaner, Jugendtrainer von Mathys Tel
Wer dafür eine Erklärung sucht, kann in die französische Provinz fahren, nach Évreux in der Normandie zum Beispiel, in die Heimat von Dayot Upamecano. Oder aber man fährt ins Epizentrum des französischen Fußballs, auf die Fußballfelder der französischen Hauptstadt und die Bolzplätze der Pariser Vorstädte. Nach Moissy-Cramayel, zu den Anfängen von Kingsley Coman, oder nach Villiers-le-Bel, in die Heimat von Mathys Tel, unserem 17-jährigen Stürmer.
Ein bitterkalter, wunderschöner Mittwochnachmittag. Die Sonne scheint, keine Wolken am blauen Himmel, auf den Plätzen des FC Villiers-le-Bel wimmelt es nur so von Kindern, Eltern, Trainern. Mitten auf dem Spielfeld steht Éric Campaner, ein kleiner Mann mit grauen Bartstoppeln, einem harten Gesicht und mittellangen, braunen Haaren unter der Mütze. Der Sportliche Direktor des Vorstadtvereins, 63 Jahre ist er alt, beobachtet die Talente und gibt Anweisungen an die Trainer. In vier kleinen Gruppen laufen die Sieben- und Achtjährigen mit dem Ball am Fuß um Hütchen, hüpfen über gelbe Hürden, sprinten an der Seitenlinie um die Wette. Knapp zwölf Jahre sind es her, da stand Campaner an derselben Stelle, im Mittelkreis, und beobachtete den neuen Jahrgang des Vereins. „Die Spielklasse der Fünfjährigen hatte ihre erste Trainingseinheit“, erzählt Campaner. „Einer der Jungs stach heraus. Er war größer, stärker als die anderen, aber auch technisch offensichtlich sehr begabt. Ich habe mir sofort gesagt: Was für ein begabter Spieler – da haben wir was.“ Es war Mathys Tel.
Éric Campaner hat früher selbst als Profi beim Paris FC gespielt, Ende der 1970er Jahre war das, „in der Zeit von Beckenbauer und SaintÉtienne“, wie er sagt. Wegen Verletzungen musste er seine eigene Karriere schon als Mittzwanziger beenden, wurde Sportlehrer in Villiers-leBel und war, von 2010 bis 2016, erster Trainer von Mathys Tel. „Mathys und der Ball, sie waren unzertrennlich“, sagt er. Daran konnten auch Campaners fordernde Trainingsmethoden nichts ändern („Der Fußball war zu meiner Zeit mehr auf die physische Vorbereitung ausgerichtet als auf Technik.“). Im Vereinsheim hängen die eingerahmten Trikots berühmter Spieler des Vereins. Auch Mathys Tel ist vertreten, daneben: Mike Maignan, Torhüter des AC Mailand, oder auch Axel Disasi, Innenverteidiger bei AS Monaco und gerade im französischen WM-Kader.
Der Alltag hart, das Spiel leicht
Einige junge Frauen bereiten gerade Tee und heiße Schokolade vor, es stehen Kuchen bereit und eine Pfanne für Crêpes. „Die Jungs und Mädels wollen ja bei Laune gehalten werden!“, scherzt eine von ihnen. Der Mittwoch hat in Frankreich eine andere Bedeutung als in Deutschland. Die Schulkinder haben dann frei oder nur vormittags Unterricht, die Nachmittage sind voll geplant: Training beim Fußball oder Tennisverein, Musikkurse, Veranstaltungen der Kirchen und Moscheen. Villiers-le-Bel mit seinen rund 28.000 Einwohnern ist weniger als eine Stunde vom Eiffelturm entfernt, doch mit dem Pariser Glamour hat das Leben nichts zu tun. Enge Wohnviertel mit gedrungenen Reihenhäusern grenzen an „grands ensembles“, die großen Plattenbauten, die dank Filmen wie „La Haine“ (dt. „Hass“) von Mathieu Kassovitz das Bild der Pariser Vorstadt geprägt haben. Viele Bewohner, wie damals auch Mathys’ Eltern, leben einen harten Alltag. Der Arbeitstag von Mathys’ Vater begann mitten in der Nacht, der Wecker klingelte um drei Uhr. Vielleicht hat Mathys Tel hier Disziplin gelernt, die man braucht, um es an die Spitze zu schaffen. Ganz sicher hat er die Liebe für den Sport von den Eltern mitbekommen, der Vater war Radfahrer, die Mutter Leichtathletin. „Wenn Mathys am Nachmittag aus der Schule kam, musste sein Vater ständig mit ihm zum Fußballplatz – auch wenn kein Training war“, erzählt Campaner. „Dann sagte er zu seinem Vater: ‚Stell dich ins Tor!‘ Und schoss und schoss und schoss, bis seinem alten Herrn die Hände wehtaten!“
Die Leidenschaft für den Fußball ist in den Vorstädten von Paris allgegenwärtig. Man spürt sie bei den Jugendlichen in PSG-Jogginghosen in der Metro, bei den Kindern, die mit Ball unterm Arm durch die Straßen flitzen. Man spürt sie auf den Betonplätzen der Stadt, man spürt sie bei den Eltern, Trainern, ClubFunktionären, die ihre Freizeit in den Dienst des Sports stellen. „Der Fußball ist sehr wichtig in der Pariser Region. Der Ball ist überall“, sagt Éric Campaner. Auch im Rathaus von Moissy-Cramayel, etwa 60 Kilometer südöstlich von Villiers-le-Bel, ist der Sport präsent. Im Büro von Abdelaziz Hassaïm, Jugendbeauftragter der Stadt, hängen viele Plakate von Sportveranstaltungen der Stadt und ein Teamfoto: die erste Mannschaft von Sénart-Moissy, Saison 2002/03. „Einige meiner besten Freunde haben in dieser Mannschaft gespielt“, sagt Hassaïm. Abdelaziz Hassaïm zog als Teenager mit seinen Eltern Anfang der 1990er nach Moissy-Cramayel. „Moissy war damals eine lebendige, wachsende Stadt. Es gab eine Mischung aus verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten. Es zogen junge Familien hierhin und haben dafür gesorgt, dass es viele sportliche Angebote gab.“
Heute koordiniert Hassaïm die verschiedensten Initiativen und Jugendsportprojekte, zum Beispiel den Moissy Cup, ein Sechs-gegen-sechs-Fußballturnier auf den öffentlichen Fußballplätzen der Stadt, im Sommer 2020, mitten in der Pandemie. Der Pate des Events: Kingsley Coman.
Der Sport als Schule fürs Leben
Moissy-Cramayel ist ein ruhigerer, sichererer Ort als Villiersle-Bel, doch einige Herausforderungen bleiben gleich. Auch hier arbeiten viele Menschen in Paris, pendeln oft und lange, die Kinder müssen sich am Nachmittag selbst beschäftigen. „Die Sportvereine sind kein Ersatz für die elterliche Erziehung, aber sie können eine wichtige Rolle für Kinder und Jugendliche spielen. Wer dreimal die Woche trainiert und ein Spiel hat, hat deutlich weniger Zeit, Dummheiten zu machen“, sagt Abdelaziz Hassaïm. „Außerdem lernt man im Verein nicht nur, einen Pass zu spielen, sondern auch Trainer zu begrüßen, sich beim Schiedsrichter zu bedanken und dem Gegner die Hand zu schütteln nach dem Spiel – ganz egal, wie es ausgeht.“
„Im Verein lernt man nicht nur Fußball, sondern auch Manieren.”
Abdelaziz Hassaïm, Jugendkoordinator von Moissy-Cramayel
In Frankreich heißen die Jugendtrainer nicht Jugendtrainer, sondern „éducateurs sportifs“ – sportliche Erzieher. Der Sport als Lebensschule. Nur wenige Hundert Meter entfernt liegt der Ort, an dem Kingsley Coman das Kicken gelernt hat, das Kämpfen und wie wichtig ein Team ist. US Sénart-Moissy, das sind gut 1.000 Mitglieder, zwei Kunstrasenfelder, zwei Grasplätze, ein Ascheplatz. Und das ist Mohamed Lazreg, ein kleiner, kompakter Mann mit grau melierten Haaren, seit 20 Jahren im Verein aktiv und mittlerweile in seiner zweiten Amtszeit als Präsident. Läuft man mit Lazreg über das Gelände, grüßt er immer wieder junge Männer und Frauen in Trainingsanzügen des Clubs: „Wir stellen der Stadt unsere Räumlichkeiten zur Verfügung, damit hier junge Menschen zu Sportlehrern ausgebildet werden können.“
Unter ihnen: Joel, Lenny und Mathis, Jahrgang 2004. Sie spielen seit ihrer Kindheit in Moissy, mittlerweile sind sie junge Männer, die an den Abenden die Kindermannschaften trainieren. Mohamed Lazreg begrüßt alle drei mit „seinem“ Gruß: zwei Berührungen mit dem Kopf, Schläfe an Schläfe, auf beiden Seiten. Es ist ein Zeichen der gegenseitigen Anerkennung, des Respekts und der Zusammengehörigkeit. „Diese Jungs sind ein gutes Beispiel für unsere Jugendarbeit. Die Jahrgänge 2004 und 2006 waren Französischer Meister in der U13! Und im Jahr dazwischen waren wir Vize-Meister. Nicht schlecht für einen kleinen Verein, würde ich sagen!“, sagt Mohamed Lazreg. Und fragt die Jungs: „Wen habt ihr im Finale geschlagen?“ „Das letzte Spiel war gegen Ajaccio“, sagt Mathis, kurz geschorene Haare, wacher Blick.
Als kleiner Regionalclub die Akademien der Ligue 1-Vereine zu schlagen, ist eine große Leistung. Dazu muss man wissen: Bei den französischen Jugendmeisterschaften geht es nicht nur um den sportlichen Erfolg. Beim sogenannten „Festival Foot“ gibt es neben den Play-off-Matches auch zwei weitere Wertungskategorien: Es werden technische Fähigkeiten wie Jonglieren und Parcours, in einem Quiz aber auch Toleranz, Solidarität und Respekt getestet. Alles Anreize, nicht nur gute Fußballer hervorzubringen, sondern jungen Menschen zu vermitteln, dass die Werte, die auf dem Platz zählen, auch daneben wertvoll sind. In der U13 spielte Kingsley Coman schon nicht mehr bei Sénart-Moissy. Er wechselte früh aus der Vorstadt zum großen Paris Saint-Germain. Das kann man im Büro von Martine Macheteau nachlesen, einer großen blonden Frau in ihren 40ern und Club-Sekretärin. „Ich habe im Archiv gekramt“, sagt sie, „und seine alten Lizenzen gefunden.“ Sie hält ein Blatt Papier, auf dem einem ein Porträtfoto des jungen Kingsley Coman entgegenschaut; er ist vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, schaut ernst, die Haare zu kleinen Zöpfen geflochten. „Wir sind natürlich alle stolz auf den Weg, den er gegangen ist“, sagt Mohamed Lazreg. Natürlich habe sich Kingsley seinen Erfolg vor allem selbst erarbeitet und verdient, sagt Lazreg. Dennoch sei die frühe Fußballausbildung ebenfalls wichtig. Kingsley Coman zeigt deshalb immer wieder, wie viel er Sénart-Moissy verdankt.
Eine Verbindung, die bleibt
Am Vorabend des WM-Starts in Katar schickte er eine Videobotschaft an den Club. Auf dem Video trägt er ein blaues Shirt von Sénart-Moissy und sagt: „Hallo an alle Leute von Moissy, hier Kingsley Coman live von der Weltmeisterschaft. Es war ein weiter Weg, und alles hat in Moissy begonnen! Ich bin stolz, US Sénart-Moissy hier zu vertreten, und hoffe, ihr seid auch stolz auf mich!“ Die Verbundenheit, die Kingsley Coman und Mathys Tel zu den Vereinen ihrer Kindheit fühlen, gründet sich in der Leidenschaft für den Fußball – geht aber auch darüber hinaus: Die Vorstadtvereine sind in Frankreich wie eine Familie, man passt auf sich auf, erst die Trainer auf die Jüngsten, dann die Jugendlichen auf die Kindermannschaften, dann die Stars auf die Clubs.
Das gilt für Frankreich im Allgemein und für den Großraum Paris im Speziellen: In der Region Île-de-France lebt ein Fünftel aller Franzosen. Knapp 250.000 Mitglieder zählt der Pariser Fußballverband. In der langen WM- und Winterpause kehrte auch Mathys Tel nach Villiers-le-Bel zurück und absolvierte einige Trainingseinheiten auf „seinen“ alten Plätzen. Und natürlich nahm er sich anschließend Zeit. Für seinen alten Coach, für die Kinder. „Er ist ein Kind dieser Stadt und er ist demütig. Er hat seine Wurzeln nicht vergessen und er wird es auch nicht“, sagt Éric Campaner.
Im Vereinsheim von Villiers-le-Bel neigt der Mittwoch sich dem Ende zu. Die Kinder sind müde, die Crêpes längst aufgegessen, trotzdem geht es nur um Fußball, Fußball, Fußball. Marvin, der Trainer der ersten Mannschaft, der früher auch Spieler und Jugendcoach war, ruft Éric Campaner zu: „Mathys hat im Freundschaftsspiel gegen Salzburg wieder getroffen.“ – „Und einen entscheidenden Pass gespielt!“, antwortet Campaner. „Ich habe es gelesen, aber noch nicht gesehen. Hast du ein Video da?“ Marvin holt sein Handy raus, Éric Campaner beugt sich über seine Schulter. Auf dem Bildschirm sprintet Mathys Tel, der Sohn von Villiers-le-Bel, im roten Bayern-Trikot über die linke Außenbahn. Mit Tempo dringt er in den Strafraum ein, stoppt kurz vor dem Fünf-Meter-Raum ab, dreht sich mit dem Ball am Außenrist um die eigene Achse und schließt kraftvoll in die untere rechte Torecke ab. Die Augen von Éric Campaner glänzen. Das Tempo, die Technik, die Kraft in Zweikampf und Schuss. „Das ist stark, das ist ganz, ganz stark. Das macht mich stolz.“ Auch Marvin nickt anerkennend. Er zeigt auf das eingerahmte Bayern-Trikot von Tel an der Wand, die Nummer 39. „Wenn er so weitermacht, dann spielt er in der Champions League gegen Paris.“
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