Es gibt schönere Schicksale, als Jamal Musiala auf dem Fußballplatz als Gegenspieler zu begegnen. Als Verteidiger sieht man eigentlich immer schlecht aus: Mal landen die Abwehrspieler einer nach dem anderen auf dem Boden, weil sie durch Musialas viele Täuschungen und Finten den Orientierungs- und Gleichgewichtssinn verlieren. Mal zerren sie verzweifelt an seinem Trikot, möchten ihn zu Boden ringen. Vergebens. Er fällt nicht, der Ball bleibt an seinem Fuß. Oder Musiala läuft mit federleichten Gazellenschritten in Richtung Tor, gleich mehrere Abwehrspieler hecheln hinterher, wie Sternenstaub hinter einem Kometen. Bei seinem Mega-Solo gegen Wolfsburg Anfang Februar 2023 startet unsere Nummer 42 knapp 50 Meter vor dem Tor, zieht nach innen, lässt sieben (!) Wölfe hinter sich, dringt mit einer flüssigen Schlangenbewegung in den Strafraum ein, quecksilbergleich, ungreifbar, ein kurzer Zwischenschritt, Kopf oben, bamm, Tor!
Es kann nicht lange dauern, bis ein neuer Begriff in die Fußballsprache eingeführt wird: „Er wurde musialisiert.“ Als Steigerung von deklassiert oder düpiert oder blamiert. Die Musialisierung ist keine brutale Methode, sondern eher eine elegante und fast liebevolle Watschen, so schnell, dass die Verteidiger den Schlag gar nicht so recht spüren, aber trotzdem benommen zurückbleiben. Sie haben soeben und bis in alle Ewigkeit ihre Grenzen aufgezeigt bekommen: „Was ist denn jetzt passiert?“, sagt ihr schockierter Blick.
Wie macht er das?
Musialas Schlangenlauf, dieser rasende Slalom durch die gegnerischen Reihen, beginnt mit der Ballannahme. Schon der erste Kontakt ist grandios und immer anders. Denn Musiala nimmt den Ball nicht einfach nur an, er leitet gleichzeitig schon die nächste Aktion ein. Einmal dreht er auf, windet sich mit einem fließenden Halbkreis-Turn um den Gegner herum, so geschwind, dass der nicht mehr reagieren kann. Manchmal lässt er den Ball aber auch einfach weiterlaufen, so dass die Verteidiger ins Leere springen. Oder er legt ihn, ohne die Kugel zu stoppen, sofort an ihnen vorbei. Musiala von dem Spielgerät zu trennen, wird so zu einer fast unmöglichen Aufgabe.
Viele Gegner, kein Problem
Doch das ist nur die Ouvertüre. Denn durch seinen genialen ersten Kontakt sei Musiala „imstande, eine neue Spielsituation zu kreieren“, sagte Danny Schwarz, der frühere Jugendtrainer des FC Bayern, mal in einem Interview. Er schafft sich Raum. Entweder liegt nun Rasen vor ihm, den er mit seiner Schnelligkeit in Richtung Tor überwinden kann, oder er leitet mit einem öffnenden Pass einen neuen Spielzug ein. Oder, und das ist sehr oft der Fall, Gegenspieler stürzen sich auf ihn. „Er kann problemlos durch mehrere Spieler hindurchdribbeln. Typ Straßenfußballer. Er sagt sich nicht: ‚Jetzt mache ich zwei Übersteiger und dann ziehe ich die Kugel mit der Sohle nach links.‘ Er macht das intuitiv“, so Danny Schwarz. Dabei scheint jeder Trick, jeder Move, jede Finte Musialas, ideal an die Bewegung der Gegner angepasst zu sein, und zwar so, dass diese instinktiv falsch reagieren und Lücken lassen, durch die unser Top-Spieler hindurchflutschen kann. Sein Schlangenlauf folgt dabei keinem festen Programm, sondern ist immer wieder neu und einzigartig und deswegen nicht vorhersehbar. Die Gegenspieler werden zu Statisten einer eindrucksvollen Show, ermöglicht durch einzigartiges Talent.
Musialas Talent zeigte sich schon früh. „Er war unglaublich flink im Dribbling, hat keinen Ball verloren gegeben. Es war schon damals ein Traum, ihm zuzusehen“, sagte Micha Hoffmann in einem Interview. Hoffman war sein erster Trainer beim TSV Lehnerz in Fulda, wo Musiala im Alter von vier Jahren zu kicken begann. In der F-Jugend schoss er gerne mal vier bis fünf Tore pro Spiel oder auch 100 Tore pro Saison. Ein Unterschiedsspieler war er also schon damals. Das änderte sich auch nicht, als er später nach einem Umzug seiner Familie nach England als Siebenjähriger beim FC Southampton spielte und dort die Aufmerksamkeit der Scouts vom FC Chelsea und vom FC Arsenal erregte. Er wechselt bald in die Jugendakademie von Chelsea.
Rekord-Teenager des FC Bayern
Aus dieser Zeit gibt es einen grobkörnigen Videoclip vom U12-Lech-Cup in Posen, Polen, einem Hallenturnier. Musiala wird von zwei Gegenspielern an der Eckfahne bedrängt. Der Ball klebt an seinem Fuß, als wäre er magnetisch. Dann zwei schnelle Finten, ein dritter Gegenspieler kommt hinzu, auch er kann ihn nicht aufhalten. Musiala dringt in den Strafraum ein und legt den Ball ins Tor. Boing, bumm, tschack. Das Erbe dieses Bewegungsablaufs dürfen wir heute im Stadion beobachten. Denn auch als die Gegenspieler schwerer, muskulöser, fähiger und gröber wurden, verlor Musiala nicht seinen Swing und seine Durchsetzungskraft.
Und so stieg er nach seinem Wechsel vom FC Chelsea zum FC Bayern, er war damals 17 Jahre alt, schnell in den Profikader auf. Schon nach der ersten Saison dort wurde er zum unverzichtbaren Stammspieler. Er schoss in 100 Spielen 20 Tore, so viele wie kein anderer Teenager beim FCB vor ihm. Und auch bei der WM in Katar 2022 stellte er einen Rekord auf. Im Spiel gegen Costa Rica hatte er 24 Ballaktionen im gegnerischen Strafraum, so viele wie kein Spieler in der WM-Historie vor ihm. Er selbst sagte in einem Interview mit unserem Mitgliedermagazin „51“: „Ich hatte es immer mit größeren und kräftigeren Gegnern zu tun. Um mich durchzusetzen, musste ich andere Lösungen finden und lernen, wie ich meinen Körper richtig einsetze.“
Schon als Siebenjähriger hatte er deswegen Tricks von seinen Vorbildern Ronaldinho, Lionel Messi oder Zinedine Zidane drauf. Durch das stete, jahrelange Training dieser Special Moves hat er seinen eigenen entworfen. Der Schlangenlauf zitiert die Kunstgriffe seiner Idole. Er kombiniert sie dabei zu unnachahmlichen und unwiderstehlichen Bewegungsabläufen.
Dabei geht es Musiala nicht um die Show oder einen spektakulären Effekt. In einem Interview mit der spanischen Sportzeitung „as“ kritisierte er seine eigene Generation, die ihr Verhalten auf dem Platz zunehmend auf Social-Media-Potenzial abstimme. „Nicht wenige versuchen, Dribblings zu erzwingen, um sie zu verbreiten“, meinte er. Viel wichtiger sei es doch zu wissen, „zu welchem Zeitpunkt in einem Spiel sie effektiv sind und ihrer Mannschaft zum Sieg verhelfen können“. Obwohl die Highlight-Reels seiner Dribblings millionenfach auf Instagram und YouTube geteilt werden, ist ihm das egal: „Manchmal kann ein einfacher Pass mehr bewirken.“
Effiziente Kunst
Sein Schlangenlauf und seine Spielintelligenz machen Musiala zu einem Spieler, der Partien mit nur ein, zwei zwingenden Aktionen allein wenden oder entscheiden kann. Vor allem, weil die gegnerische Defensive ihn kaum davon abzuhalten vermag, die gefährliche Zone zu infiltrieren. Schaut man sich Shot Maps seiner Spiele an, sieht man, dass er die meisten seiner Schüsse innerhalb des Strafraums abgibt. Aber nicht nur das: Am Ende seiner Schlangenläufe steht auch oft ein Pass in die Schnittstelle oder ein präziser, den Sechzehner durchschneidender Querpass. Musiala schießt Tore und gibt Assists. Seine Dribbelkunst ist also nicht nur „l’art pour l’art“, Übersteiger fürs Entertainment. Nein, sie ist effizient und schenkt dem Spiel des FC Bayern eine Unberechenbarkeit, die gegnerische Teams alsbald überfordern kann. Kunst sind Musialas Schlangenläufe natürlich trotzdem. Er zeichnet mit ihnen vergängliche Werke auf den Stadionrasen. Sie lösen sich während ihrer Ausführung schon wieder auf. Und doch bleiben sie bei allen, die sie betrachten dürfen, für immer im Gedächtnis. So wie es nur gelingt, wenn man etwas Einmaliges, Unvergleichliches, phänomenal Schönes erschaffen hat.
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