
In der heißen Saisonphase erreicht der Druck ein neues Niveau: Man darf sich keinen Ausrutscher erlauben. Wie man mit solchen Situationen umgeht, erklären die Extrembergsteiger Thomas und Alexander Huber – und was jeder von Top-Leistungen auf dem Fußballplatz und dem Berg lernen kann.
Das Interview mit Thomas und Alexander Huber
Wenn ein Fußballer einen gravierenden Schnitzer macht, verliert er ein Spiel oder scheidet aus einem Wettbewerb aus. Wenn ihr einen macht, verliert ihr womöglich euer Leben. Gab es mal eine Situation, in der es wegen eines Fehlers wirklich eng wurde?
Thomas: „Ich bin einmal abgestürzt. 16 Meter. Am Brendlberg, quasi bei mir vor der Haustür, eine Wand, die ich sehr gut kenne. Wir machten Filmaufnahmen. Ich wollte mich gerade abseilen auf einen Absatz an der Wand, da machte es plötzlich „zssss“, und ich stürzte ins Leere. Ich drehte mich in der Luft, knallte auf den Waldboden. Damals hatte ich Glück, mit einem Schädelbruch und ohne bleibende Schäden davongekommen zu sein.“
Was war passiert?
Thomas: „Ich hatte beim Training an der Wand immer ein 60-Meter-Seil benutzt, aber diesmal hatte ich ein abgeschnittenes erwischt, dass nur 55 Meter lang war. Das hatte ich vorher nicht überprüft. Ich fühlte mich zu sicher. Das wurde mir zum Verhängnis. So läuft es meistens, wenn Bergsteiger verunglücken. Es passiert fast nie in Extremsituationen, nie in einer extrem schwierigen Wand. Es passiert, wenn man glaubt, jetzt ist alles easy.“
Alexander: „In einer Extremsituation, wenn du weißt, jetzt geht’s um die Katz, sind deine Sinne so geschärft, ist deine Sensorik so feinfühlig, dass das für eine gewisse Sicherheit sorgt.“
Thomas: „Aber wenn du zu entspannt bist, wird es gefährlich. Und diese Erkenntnisse kann man eigentlich auch wunderbar auf den Fußball übertragen.“
Wie genau?
Thomas: „Nimm die entscheidende Phase einer Saison oder auch in einem Spiel: In dem Moment, wo das Team zu hundert Prozent gefordert ist, in den großen Spielen, gegen die großen Gegner, funktioniert eine Mannschaft wie der FC Bayern in der Regel. Aber sobald du glaubst, es geht ja sowieso, ist jeder Einzelne auch mal eher anfällig für Ausrutscher.“
„In dem Moment, wo das Team zu hundert Prozent gefordert ist, in den großen Spielen, gegen die großen Gegner, funktioniert eine Mannschaft wie der FC Bayern in der Regel.”
Thomas Huber
Ihr habt spektakuläre Expeditionen in der Antarktis und im Himalaja unternommen, einige der berühmtesten Wände der Welt durchstiegen, teils in Weltrekordzeit. Ihr kennt diese „Jetzt gilt’s“-Phasen selbst gut. Was kann man in der Vorbereitung tun, um später unter Hochdruck so gut wie möglich zu performen?
Alexander: „Grundvoraussetzung ist natürlich, im Training alles mitzunehmen und körperlich top vorbereitet zu sein. Auch weil das für den Kopf so wichtig ist. Du brauchst das Wissen, um mit dem notwendigen Selbstvertrauen positiv reinzugehen.“
Thomas: „Du musst du dich von vornherein darauf einstellen, dass nicht alles glatt laufen wird und dein Vorhaben womöglich auch misslingt. Du musst eine gewisse Gelassenheit entwickeln. Denn am Berg kannst du nichts erzwingen. Die Realität ist doch die: Wir schauen uns einen Berg auf Bildern an, planen unser Projekt, haben Idealvorstellungen im Kopf. Und dann fahren wir hin und – zack, bumm – das Wetter ist schlecht, alles muss umgeschmissen werden. Jetzt heißt es: Akzeptiere die Situation, mach das Beste daraus. „The mountain is not running away“, sagt ein Freund von mir aus Pakistan. Die Berge stehen immer da, die Herausforderung läuft dir nicht weg.“
Alexander: „Es gehört bei jeder Expedition eben auch ein bisschen Glück dazu. Du brauchst ein starkes Fundament an Können, um überhaupt in die Situation zu kommen, dass ein Erfolg möglich ist. Aber letztlich braucht man im Leistungssport auch immer ein Quäntchen Glück, um zum Erfolg zu kommen. Erinnern wir uns an die Bayern-Saison 2012: Zweiter in der Meisterschaft, Niederlage im Pokalfinale, das verlorene „Finale dahoam“. Und was folgte im Jahr darauf? Das Triple! In beiden Jahren hatte die Mannschaft etwa das gleiche Grundkönnen, aber 2013 eben auch das nötige Glück – und sie haben nicht aufgehört, an sich zu glauben. Die Quintessenz ist: Du musst in dein Können vertrauen und dann dranbleiben. Dann stellt sich in aller Regel der Erfolg auch irgendwann ein.“

Nehmt uns bitte mal mit in die Wand. Zum Beispiel zum El Capitan im Yosemite-Nationalpark. Dort seid ihr eine Route, für die Seilschaften normalerweise drei bis fünf Tage brauchen, mal in zwei Stunden und 45 Minuten geklettert. Ihr steht also unten, der Aufstiegsversuch steht unmittelbar bevor. Was geht da in euch vor?
Thomas: „Unmittelbar vorher denke ich eigentlich an gar nichts mehr. Noch mal durchschnaufen und dann geht’s los. „3 – 2 – 1 – go“ – und mit diesem „Go“ ist alles andere weg, es existiert nur noch das, was ich gerade tue. Gerade beim Speed-Klettern verschwinden wir komplett im Tunnel. Alles läuft automatisch, jeder Handgriff. Du darfst da nicht mehr anfangen zu denken. Der menschliche Geist ist zu langsam für die sportlichen Anforderungen im Höchstleistungsbereich.“
Alexander: „Situationen im Grenzbereich kann der Mensch aufgrund der Geschwindigkeit der Abläufe kognitiv nicht verarbeiten. Entscheidungen und Aktionen laufen weitestgehend im Unterbewusstsein ab.“
Thomas: „Du bringst allerhöchste Leistung, wenn du deinen Geist weglässt und handelst. Ich bin mir sicher, das kennen Fußballer genauso: Am besten spielst du, wenn du nicht mehr darüber nachdenkst, wo du hinläufst oder welchen Passweg du wählst. Leider schafft man es nicht immer, in diesen Zustand zu kommen. Aber wenn du es schaffst, ist es großartig. Alles läuft mühelos, fast wie von selbst.“
Du bist quasi „in der Zone“ oder im „Flow“.
Thomas: „Ja. Und das kann zu ganz besonderen Leistungen führen. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal beim Klettern das Gefühl hatte, fast die Schwerkraft aufzuheben. Ich steckte voller Adrenalin, weil ich vorher einen kleinen Unfall gehabt hatte …“
Alexander (schmunzelt): „Er hatte den VW-Bus vor der Garage abgestellt, nur minimales Gefälle, ohne Handbremse. Da kam der Bulli ins Rollen, und Thomas hat gemeint, er könnte ihn aufhalten. Konnte er natürlich nicht. Aber gegen einen VW-Bus verloren zu haben, hat ihn so gepusht, dass er sich danach beim Klettern selbst übertroffen hat.“
Thomas: „Es war verrückt. Ich konnte nicht mehr scheitern. Ich machte diese wirklich schwere Boulder-Route einfach immer wieder. Als gäbe es keine Schwerkraft. Es gibt diese Zustände. Da bist du unzerstörbar. Das sind magische Momente.“
„Du bringst allerhöchste Leistung, wenn du deinen Geist weglässt und handelst. Ich bin mir sicher, das kennen Fußballer genauso.”
Thomas Huber
Falls man aber Schwierigkeiten damit hat, in diesen Flow-Zustand reinzukommen: Was kann man da tun?
Thomas: „Mein Sohn Elias ist Snowboarder, der auch bei Weltmeisterschaften und Olympia startet. Als er vor einiger Zeit mal eine mentale Blockade hatte, half ihm einer meiner Lieblingstricks: Bevor es losgeht, denke ich an Situationen, in denen es richtig gut lief, und zerlege sie in Einzelteile: Wie war das Gefühl? Was habe ich gedacht? Wie liefen meine Entscheidungen? Ich visualisiere die Situation und lasse sie so wieder aufleben. Und ich mache mir bewusst, dass ich das wieder schaffen kann. Ich muss nur bereit sein, diese Tür wieder aufzustoßen. So kann man sich die magischen Momente, die man in seinem Leben gesammelt hat, immer wieder zunutze machen.“
Alexander: „Was auch hilft: sich bewusst zu machen, dass es kein Weltuntergang ist, wenn du mal verlierst. Das nimmt dir den Druck und gibt dir die Leichtigkeit, die du brauchst, um in diesen Flow zu kommen. Es gibt Fehler, und es gibt Fehler mit wirklich negativen Folgen. Es ist ein Fehler, wenn man eine Chance nicht genutzt hat. Das ist schade, aber es hat keine problematische Konsequenz, denn man kann weiter dranbleiben. Problematisch sind dagegen Fehler mit negativen Konsequenzen. Die passieren oft, wenn du etwas erzwingen willst und zu weit gehst. Beim Fußball kann das ein übermotivierter Spieler sein, der zu hart reingeht und Rot sieht. Beim Bergsteigen sind die Konsequenzen mitunter noch wesentlich dramatischer, wenn du die Grenze in dir überschreitest.“
Ihr habt es bislang immer geschafft, sie nicht zu überschreiten.
Thomas: „Ja, wir sind Grenzgänger, aber keine Grenzüberschreiter.“
„Die Angst macht dich sensibel für Gefahren, sie bewahrt dich davor, zu weit zu gehen, sie hilft dir zu spüren, wo die Grenze ist.”
Alexander Huber
Aber woher wisst ihr, wo die Grenze liegt?
Alexander: „Du hast deine Erfahrung, dein Wissen, deine geschulten Sensoren. Damit analysierst du die Situation. Und dann hast du auch noch das Bauchgefühl. Und da ist die Angst ein enorm wichtiger Faktor.“
Alexander, du hast die Angst in einem deiner Bücher mal als „besten Freund“ bezeichnet.
Alexander: „Die Angst macht dich sensibel für Gefahren, sie bewahrt dich davor, zu weit zu gehen, sie hilft dir zu spüren, wo die Grenze ist.“
Sie kann aber auch lähmend sein. Speziell in besonders entscheidenden Situationen, sei es an einer heiklen Stelle in einer Wand oder bei einem wichtigen Elfmeter in einem Finale.
Thomas: „Ich visualisiere die anstehende Aktion, denke daran, wie ich sie im Training Hunderte Male gemeistert habe. Unmittelbar bevor ich den Zug mache, denke ich an meinen Trainer, der immer sagt: „Tom, von unten raus.“ Und dann brauche ich nicht mehr nachzudenken: tschack, puhh (er atmet ruckartig aus, d. Red.), ich mach es einfach, fertig.“
Alexander: „Durch das Visualisieren stärkt er sein Selbstvertrauen, das er ja berechtigterweise haben kann. Und durch den Gedanken an seinen Trainer erzeugt er ein vertrautes Bild in seinem Kopf und lenkt seine Konzentration darauf. So lässt er den negativen Gedanken keinen Raum. Was vielen in solchen Situationen auch hilft, sind Rituale.“
Habt ihr welche?
Thomas: „Der Gedanke an meinen Trainer ist im Grunde ein Ritual. Außerdem ziehe ich immer meinen linken Kletterschuh zuerst an. Und ich bete, bevor ich mich auf die Reise zu einer großen Wand mache und wenn ich einen Gipfel erreicht habe.“
Alexander: „Wenn es beim Klettern hart wird, klopfe ich vor einem Zug gerne mit dem Schuh an den Felsen: tock, tock, tock. Das hat insofern einen Sinn, dass der Schuh dann noch etwas besser sitzt, aber in erster Linie ist es ein Ritual. Viele Fußballer nutzen ja auch Rituale, rollen den Ball zum Beispiel kurz nach hinten, wenn sie ihn auf den Elfmeterpunkt legen. Es gibt dir Sicherheit, beschäftigt dein Gehirn, während du dich bereit machst für die Aktion. Und dann heißt es einfach: Selbstvertrauen haben, das Vertrauen in dich selbst, dass du es kannst!“

Bei allen Erfolgen, die ihr in eurer Karriere gehabt habt, seid ihr auch immer mal wieder in Extremsituationen gescheitert. Wie sieht für euch ein kluger Umgang mit Misserfolgen aus?
Thomas: „Sie gehören dazu, das ist ganz klar. Das Interessante beim FC Bayern ist ja: Der Club steht fast die ganze Zeit am Gipfel. Er ist eine Art Gratwanderer. Damit läuft man Gefahr, sich schwerer motivieren zu können, weil die Wertschätzung für das Erreichte irgendwann absinkt. Zum anderen hat es zur Konsequenz, dass man sich immer wieder neue, noch größere Ziele setzen muss. Aber das macht es ja oft erst richtig spannend, das kennen wir auch: Wir gehen dahin, wo wir scheitern können. Dort wird es unglaublich interessant. Aber dort droht halt auch der Misserfolg.“
Alexander: „Das Wichtigste ist, dass man nach einem Misserfolg nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern die Fehler analysiert, das Geschehene abschüttelt und die richtigen Schlüsse zieht, um die nächste Chance zu nutzen. Eine Krise ist immer auch eine Möglichkeit zum Reset.“
Thomas: „Was ich über die Jahre gelernt habe: Manchmal brauchst du, wenn es nicht läuft, auch einfach die Gabe, für eine Weile loszulassen. Sag dir: „Okay, es läuft gerade nicht, und das darf jetzt mal so sein, aber ich weiß, was ich kann, und diese Phase wird wieder vorbeigehen.“ Und: Es gibt Dinge, die wichtiger sind als der Gipfelerfolg: Die Freundschaft und die Gesundheit. Nur wenn man überlebt und sich weiter in die Augen schauen kann, kann man die Wand erneut angreifen.“
„Das Wichtigste ist, dass man nach einem Misserfolg nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern die Fehler analysiert, das Geschehene abschüttelt und die richtigen Schlüsse zieht, um die nächste Chance zu nutzen.”
Alexander Huber
Woher nehmt ihr nach all den Jahren die Motivation, immer wieder aufzustehen und neue Ziele anzupeilen? Auch beim FC Bayern sagen die Spieler stets, man wolle Titel immer und immer wieder erreichen … Macht das Gipfelglück süchtig?
Alexander: „Wenn du ein Ziel erreicht hast, auf das du so lange hingearbeitet hast, dann ist es, als würde die Zeit für eine Weile stillstehen. Da ist diese großartige Phase, in der du nicht darüber nachdenkst, was als Nächstes kommt, sondern einfach nur im Jetzt bist. Und die musst du genießen. Sie ist die Energiebasis für das, was irgendwann folgt.“
Wie lang hält diese Phase an?
Thomas: „So lange, wie du dir selbst den Raum dafür gibst. Mein Rat wäre: Gib dir lieber ein bisschen länger.“
Und dann muss der nächste Gipfel her?
Alexander: „Es ist wichtig, alltägliche Momente des Glücks zu haben, ein gutes Gespräch, eine gute Tasse Kaffee. Aber ich denke, das Leben charakterisiert sich letztlich durch diese besonderen Erfolge, für die du viel Vorbereitung brauchst. Die gibt es ja nicht nur im Sport, die gibt es auch im Alltag. Du bereitest dich intensiv auf etwas vor, steckst Energie hinein, schaffst es. Das sind besondere Glücksmomente. Und die machen das Leben reich.“
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Mitgliedermagazins „51“ erschienen.
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