Englischer Kapitän, Top-Torjäger, Nationalheiligtum – und jetzt Bayer! Was denkt London über den spektakulären Transfer von Harry Kane nach München? Wir haben uns in der Heimat der Spurs umgehört – und dort mit britischen FCB-Fans die Saisonpremiere erlebt.
Die Hauptstraße von Tottenham ist an diesem sonnigen Freitag wuselig wie immer. Die Gegend ist ein Londoner Arbeitsviertel: bodenständig, etwas unordentlich und überaus divers. Im türkischen Restaurant brutzelt der Grill, daneben steht der Inhaber eines jamikanischen Jerk-Chickens-Laden rauchend an der Tür. Aus der Fish-and-Chips-Bude schlägt einem der Geruch von Bratöl entgegen. Mittendrin steht das Stadion der Tottenham Hotspurs. Ein paar Dutzend Fans, manche mit Vereinstrikot oder Flaggen, spazieren rund um den wuchtigen Bau, andere stehen Schlange und warten auf eine Führung. Es scheint ein normaler Tag zu sein in Tottenham – aber nur auf den ersten Blick.
Das Spiel nach dem Spiel
Gleich um die Ecke des Stadions prangt auf einer Hauswand das riesige Wandgemälde von Harry Kane. Gerade mal eine Woche ist es her, da war er noch der größte Star der „Spurs“, zudem auf dem Weg zum ewigen Top-Torschützen der Premier League – ein Idol für Zehntausende hier in Nordlondon. „He’s one of our own“ steht Weiß auf Blau auf dem Mural: Er ist einer von uns. Das Gemälde wurde erst im Mai enthüllt, seit dem 12. August ist es aber bereits überholt. Kane geht nicht mehr für Tottenham auf Torejagd. „HERRy Kane“, titelte der „Mirror“, die „Daily Mail“ berichtete von der „Kane-Mania“ in München, und die „Sun“ fragte besorgt, ob Henry Edward, der jüngste Sohn des neuen Bayern-Stürmers, dereinst für das deutsche Nationalteam spielen könnte. Keine Frage: Es war der Deal des Jahrzehnts. Die Fans in Nordlondon geben sich zunächst gelassen. „Wir werden darüber hinwegkommen“, sagt Kane Vanner, der gerade die High Road entlanggeht.
Er ist 25 Jahr alt, trägt ein Tottenham-T-Shirt und hat einen wilden Haarwuchs. So ganz versteht er den Wechsel seines Namensvetters allerdings nicht. „Er war ein Held hier, er wurde vergöttert!“ Er könne gern mehr erzählen, aber er brauche jetzt ein Bier, sagt Vanner und führt ins „Bricklayers Arms“. Wie jedes Pub hier ist es eine Fankneipe, Schwarz-Weiß-Bilder vergangener Tottenham-Stars dekorieren die Wände, über der Bar hängen Wimpel mit dem Vereinswappen. Vanner und sein Freund setzen sich mit zwei Pints in den Hinterhof. „Klar, Kane wird wohl mit Bayern einige Trophäen gewinnen“, sagt er. „Aber für englische Fans bedeutet das nicht besonders viel.“ Andererseits sei der Transfererlös sehr willkommen: „Ich erwarte, dass Kane irgendwann zurückkommen wird. Aber ich hoffe, dass wir auch ohne ihn stark genug sind.“
Rob White zeigt mehr Verständnis. Der 59-Jährige sitzt ebenfalls in dem Pub und hat Tottenham im Blut – wortwörtlich: Sein Vater John White war in den 1960er Jahren Teil der Mannschaft, die den Club zu seinen größten Erfolgen führte. Im „Bricklayers Arms“ hängt ein Bild von ihm an der Wand. John White wurde mit nur 27 Jahren durch einen Blitzschlag getötet. Sein Sohn sitzt heute im Vorstand des offiziellen Fanverbands von Tottenham. „Manche Fans verstehen den Wechsel zu Bayern nicht“, sagt White. „Aber wenn man sich die europäischen Fußball-Supermächte anschaut, dann kann es Tottenham halt nicht mit Bayern aufnehmen.“ Er erinnert sich schmerzhaft an die 2:7-Niederlage gegen die Münchner und hadert. „Aus finanzieller Sicht mag der Deal für uns Sinn ergeben“, sagt er. „Aber Geld ist nicht alles. Kane ist der beste Stürmer seiner Generation. Sein Abschied macht uns schwächer.“
„Noch einen Stein, bitte“
Ausgelassenheit und Vorfreude hingegen einige Stunden später bei der London Bridge, etwa zehn Kilometer weiter südlich. Der „Bermondsey Bierkeller“, unter der Brücke gelegen, ist ein Stück München mitten in der britischen Hauptstadt. Im Vorraum hängen urige Bierkrüge an der Decke, auf den schwarz gestrichenen Wänden liest man Oktoberfest-Sprüche wie „Noch einen Stein, bitte“. Ein Kellner ist in Lederhosen unterwegs. Daniel Sprich, ein groß gewachsener Mann im Bayern-Trikot, hat sich ein großes Bier an der Bar geholt. „Ich kann es noch immer nicht fassen“, sagt der Exil-Deutsche, der seit über einem Jahrzehnt in London lebt. „Normalerweise verlassen englische Fußballer die Insel nicht. Dass Harry Kane, der englische Skipper, jetzt für Bayern spielt, ist unglaublich.“ Sprich ist 41 Jahre alt und seit über 30 Jahren Bayern-Fan. Die Saison 91/92 war die erste, die er mit Herzblut verfolgte, Manni Schwabl war sein Idol. Er richtet seinen Alltag am Spielplan seines Teams aus.
Darum sitzt er heute hier im „Bermondsey Bierkeller“, um sich das Eröffnungsspiel der neuen Bundesliga-Saison live anzuschauen. Er ist etwas früh hier, aber der Rest der „Red Dragons“ trudelt ein. Die „Red Dragons“ sind ein Bayern-Fanclub in London, gegründet vor zehn Jahren. Es ist ein bunter Haufen. Unter den etwa 45 Mitgliedern sind viele Deutsche, eine Handvoll Engländer und jede Menge andere Nationalitäten. Ab und zu fliegen sie zusammen nach München in die Allianz Arena. Und freilich schauen sie sich gemeinsam die Spiele ihres Teams an. Seit letztem Jahr ist der „Bermondsey Bierkeller“ ihr neues Zuhause. Eine halbe Stunde vor Anpfiff humpelt Paul Wheeler in den Raum. Der Vorsitzende der „Red Dragons“ geht derzeit an Krücken – lädierter Meniskus, einem unbeholfenen Tanzversuch an einem Junggesellenabschied geschuldet. „Die vergangenen Wochen waren nicht einfach für mich, denn ich habe zwei Herzen“, sagt er und beginnt, die Ärmel seines Trikots hochzukrempeln. Auf einem Arm prangt ein Bayern-Tattoo, auf dem anderen ein Tottenham-Tattoo.
„Dass Harry Kane, der englische Skipper, jetzt für Bayern spielt, ist unglaublich.”
Daniel Sprich
Zwei Herzen unterm Trikot
Dass er zum Bayern-Fan wurde, ist irgendwie auch dem Club aus Nordlondon zu verdanken: Sein Lieblingsspieler war Jürgen Klinsmann, und „Klinsi“ kickte für die Spurs, bevor er 1995 zu Bayern wechselte. „Daher kommt meine Liebe zu Bayern München. Ich war gerade mal zehn Jahre alt, als der Club mein deutsches Team wurde“, sagt Wheeler. „Kanes Transfer ist ein riesiger Verlust für die Spurs“, sagt er. Dennoch ist er sich sicher, dass das Team genügend Talente hat, um ihn zu ersetzen. „Und was Bayern anbelangt: Kane ist einfach riesig. Nicht nur ist er ein Ausnahmespieler, sondern auch der England-Kapitän. Er ist hier so etwas wie ein Nationalheiligtum.“ Das werde nicht zuletzt das Interesse der England-Fans an der Bundesliga fördern. Ins Bayern-Team passt Kane wie die Faust aufs Auge, da ist sich Wheeler sicher: „Er ist der natürliche und logische Nachfolger von Lewandowski. Kane füllt das Loch, das wir bislang im Sturmzentrum hatten.“
Um halb acht Ortszeit ist Anpfiff, die „Red Dragons“ – es sind heute genau elf Bayern-Fans gekommen – verstummen und blicken gebannt auf den Bildschirm. Der erste Jubel kommt schon nach wenigen Minuten, Sané hat getroffen – nach feiner Vorarbeit von Harry Kane. Aber eigentlich warten hier alle auf das erste eigene Tor der neuen Nummer neun. Manche „Red Dragons“ kauen an Fingernägeln, andere kratzen sich am Kinn, Ballverluste und Fouls an Bayern-Spielern werden mit missmutigen Ausrufen („Fucking hell!“) kommentiert. Es ist eine etwas angespannte Atmosphäre. Zur Halbzeit werden gleich neue Biere geholt, und die Fachsimpelei geht los. Kane halte sich zu sehr im Mittelfeld auf, meint einer, so sei die robuste Verteidigung von Werder Bremen nicht zu durchbrechen. Zweite Halbzeit. Nach 15 Minuten kommt Kane seinem ersten Bundesliga-Tor näher, aber der Ball geht knapp am Pfosten vorbei.
Im Bierkeller spielt der DJ Pop-Klassiker wie „Walking on Sunshine“ und „Stayin’ Alive“, Paul Wheeler und Daniel Sprich lassen sich zu einem kleinen Tänzchen hinreißen. Gute Stimmung rund herum. Aber noch immer fehlt das Tor. Dann, in der 74. Minute, die Erlösung: Kane trifft, und die elf Fans im „Bermondsey Bierkeller“ lassen das Gewölbe unter ihrem ohrenbetäubenden Jubel erzittern. „I knew it!“ ruft einer. Alles ist gut jetzt, dann schießt Bayern noch zwei Tore, was für ein Start in die neue Saison. „Ich war schon sehr emotional“, sagt Wheeler nach dem Spiel. „Er ist nicht mehr mein Spurs-Boy, er ist jetzt mein Bayern-Boy. Das fühlt sich schon komisch an. Aber ich bin so glücklich.“
Fotos: Ryan Thomas
Dieser Artikel ist Teil der neuen Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“.
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