
Vor 40 Jahren wurde Udo Lattek zum zweiten Mal Trainer des FC Bayern. Es begann eine der erfolgreichsten Epochen der Vereinsgeschichte. Fünf Weggefährten erinnern sich.
Die Rückkehr
Die Saison 1982/83 lief nicht besonders gut für den FC Bayern. Drei Spieltage vor dem Saisonende musste Trainer Pal Csernai gehen und sein Assistenztrainer Reinhard Saftig übernahm für die letzten Spiele. Zur neuen Saison kam Udo Lattek, der den FC Bayern schon von 1970 bis 1975 trainiert hatte. In dieser Zeit hatte er dreimal die deutsche Meisterschaft, einmal den DFB-Pokal und einmal den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Kurz vor seiner Rückkehr war Lattek vom FC Barcelona entlassen worden, angeblich wegen Unstimmigkeiten mit Diego Maradona.

Uli Hoeneß: „Ich hatte schon zu meiner Anfangszeit als Spieler ein besonderes Verhältnis zu Udo, noch bevor ich zum FC Bayern München gewechselt bin. Er war damals mein Trainer bei den DFB-Junioren und sagte eines Tages zu Paul Breitner und mir, dass er zu Bayern gehe und wir da auch hinkommen sollen. Als es dann mit Pal Csernai nicht mehr weiterging, habe wir uns schnell mit ihm geeinigt. Er sollte wieder frischen Wind bei uns reinbringen.“
Jean-Marie Pfaff: „Csernai war eher der Gentleman, immer gut gekleidet. Er hat zu seiner Zeit das Spielsystem beim FC Bayern modernisiert. Das Pal-System, eine Mischung aus Mann- und Raumdeckung. Udo Lattek war da etwas burschikoser.“
Klaus Augenthaler: „Csernai war menschlich nicht einfach, aber ein hervorragender Trainer, fachlich unglaublich versiert. Er hat 20 Minuten ein Spiel angesehen und es dann so genau analysiert, wie es heute nur die Computer können. Aber nach seiner Amtszeit war die Mannschaft ein wenig zersplittert. Udo hat uns wieder zusammengeschweißt. Er hat einmal gesagt: „Da, wo ich bin, ist oben.“ Diese Mentalität, dieses Selbstbewusstsein hat er uns gegeben.“
„Er hat einmal gesagt: ,Da, wo ich bin, ist oben.' Diese Mentalität, dieses Selbstbewusstsein hat er uns gegeben.”
Klaus Augenthaler
Reinhard Saftig: „Lattek hat das taktische System von Csernai ein wenig angepasst, an den Stellschrauben gedreht, was dann sehr gut geklappt hat. Udo und ich haben uns anfangs noch gesiezt, aber irgendwann hat er mir das Du angeboten. Das war bei Csernai vier Jahre lang nicht der Fall. Jeden Donnerstag nach dem Nachmittagstraining sind wir in ein Lokal in Harlaching, haben eine Kartoffelsuppe gegessen und haben lange geredet. Das wurde zu einem Ritual. Nur wir zu zweit.“
Hoeneß: „Er kam noch mal reifer nach München zurück. Mit Gladbach hatte er Meisterschaften und den DFB-Pokal geholt, mit dem FC Barcelona den Europapokal der Pokalsieger. Dort hat er sich außerdem mit Diego Maradona angelegt, was ihm am Ende nicht so gut bekam. Aber das zeigt, dass er immer Rückgrat hatte. Damals hatten wir keine leichte Zeiten, mussten extrem hart kämpfen. Jüngere Fans können sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber damals gab es viel mehr Widersacher: Werder Bremen, der Hamburger SV und wie sie alle hießen. Aber Udo wusste, was zu tun war.“

Der Motivator
In der Anfangszeit von Lattek erlebte die Mannschaft einen Umbruch. Paul Breitner, Dirigent im Mittelfeld, beendete seine Karriere, am Ende der Saison wechselte Torjäger Karl-Heinz Rummenigge zu Inter Mailand. Es kamen viele neue Spieler, die integriert werden mussten.
Saftig: „Udo ist immer wieder auch auf die jüngeren Spieler zugegangen, hat ihnen eine Chance gegeben. Er hatte ein Händchen für sie, hat sie gestärkt und sie auch aufgestellt. Er hatte die große Gabe, Spieler starkzureden. Ein großer Motivator.“
Hans Dorfner: „Ich kam von der U19 in die erste Mannschaft, und am Anfang hatte ich nicht so viele Berührungspunkte mit ihm, gespielt habe ich auch nicht, es waren Lehrjahre. Meine Highlights waren die Trainingslager. Da wurde sehr hart trainiert, und ich weiß noch, wie der Udo sich gefreut hat, wenn wir mit den Medizinbällen kurz vor dem Ziel total fertig umgefallen sind. Es war dann irgendwann klar, dass ich nach Nürnberg ausgeliehen werde am Ende der Saison. Wir hatten dann noch das Abschiedsspiel von Kalle in Mailand. Ich spielte die zweite Halbzeit, und auch sehr gut. Nach dem Spiel kam der Udo Lattek zu mir und meinte: „Hans, du bist ein großes Talent, ich möchte, dass du bleibst, ich möchte dich aufbauen.“ Ich wollte nach Nürnberg, weil ich mehr spielen wollte. Er hat auf mich eingeredet, aber ich habe mich durchgesetzt. Nach zwei Jahren Nürnberg wurde ich dann unter ihm Stammspieler.“
Augenthaler: „Der Udo kam zu mir und sagte: „Auge, du bist unser neuer Kapitän.“ Andere Spieler haben sich beschwert: „Nein, Trainer, andere sind erfahrener und älter.“ Aber Udo blieb hart: „Nein, Auge, du!“ Ich habe vorher schon meine Leistung gebracht, aber jetzt hatte ich noch mehr Verantwortung und musste mich noch mehr reinhängen.“
Hoeneß: „Damals war der FC Bayern alles andere als auf Rosen gebettet. Für Sören Lerby haben wir 1,8 Millionen Mark hingelegt, und Udo sagte mal: „Da musste der FC Bayern Kredit aufnehmen – wenn das in die Hose gegangen wäre, hätten wir alle ‚gute Nacht‘ sagen können.“ Aber Sören war ein Segen. Ich hatte ihn drei Jahre lang bearbeitet, dann kam er – und wurde mit Lothar Matthäus der Motor unserer Erfolge in den 80er Jahren.“
Augenthaler: „In der Zeit war auch wichtig, dass Uli Hoeneß Spieler geholt hat, die wirklich zum FC Bayern gepasst haben. Die nicht nur kamen, weil es hier mehr zu verdienen gab. Nein, diese Spieler hatten Charakter, sie wussten innerhalb kurzer Zeit, was es heißt, für den FC Bayern zu spielen. Sie hatten das ,Mia san mia‘.“
„Für so einen Trainer gehen die Spieler durchs Feuer.”
Uli Hoeneß
Dorfner: „Die Mannschaft hatte richtige Typen. Fußballerisch waren sie vielleicht gar nicht so überragend, aber vom Charakter her. Ein Auge, ein Lothar, ein Lerby, vorn drin ein Dieter Hoeneß oder ein Wiggerl Kögl. Und Udo Lattek hatte die große Stärke, sie gut führen zu können. Er hat geschaut, dass alle fit sind, und ansonsten hat er lange Leine gelassen.“
Saftig: „Die Stimmung war sehr gut damals. Er hat es geschafft, eine tolle Atmosphäre zu schaffen. Heute liest man manchmal, ein Trainer hätte „die Kabine verloren“. Dieses Problem hatte er mit Sicherheit nicht.“
Hoeneß: „Beim Double 1986 hat Udo unserer Mannschaft nach dieser unglaublichen Last-Minute-Meisterschaft im Olympiastadion (Anmerkung der Redaktion: Bayern schnappte am letzten Spieltag mit einem 6:0 gegen Gladbach Bremen den Titel weg) bis zum Mittwoch für jeden Abend Biergartenbesuche verordnet – wirklich verordnet! Tagsüber wurde schon ein bisschen trainiert, aber dann ging es immer ab in den Biergarten, mit allen zusammen – heute undenkbar bei all den Smartphones. Am Samstag war dann das Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart. 5:2 für den FC Bayern! Für so einen Trainer gehen die Spieler durchs Feuer.“
Augenthaler: „Einmal sind wir auf die Wiesn und haben uns für unsere Kinder einen Babysitter geteilt. Auf dem Rückweg sind wir dann zu mir, weil seine Tochter bei uns war. Ich habe ihn gefragt, ob er noch was trinken möchte, aus Höflichkeit und in der Hoffnung, er würde Nein sagen, es war schon halb zwölf. Wir saßen dann bis frühmorgens zusammen.“
Dorfner: „Vor einem Spiel sind wir einmal ausgebüxt und erst in der Früh heimgekommen. Haben halt eine Gaudi g’habt und a Festl g’macht. Und er: „Jungs, wir unterhalten uns nach dem Spiel. Wenn ihr euch den Arsch nicht aufreißt, dann reiß ich ihn euch auf.“ Wir haben dann 4:0 oder so gewonnen. Er: „Jungs, das ist vergessen. Ich will das zwar nicht noch einmal sehen. Aber das passt.“ Zwei Jahre später, gleiche Situation mit Jupp Heynckes. Wir mussten alle 5.000 Mark Geldstrafe zahlen und haben das Spiel danach verloren.“
Pfaff: „Unter Udo gab es immer eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Wenn es gut lief und wir gewonnen haben, hat er uns viele Freiheiten gelassen. Aber wehe, die Ergebnisse haben nicht gestimmt. Dann konnte er uns ganz schön schleifen.“

Unvergessene Spiele
Neben den großen Erfolgen in der zweiten Lattek-Ära – drei Meistertitel, ein Pokal und ein Europacup-Finale – gab es auch besonders aufregende Spiele: etwa den ersten Auswärtssieg am Betzenberg in Kaiserlautern nach acht Jahren, bei dem die Mannschaft im legendären Brasilientrikot auflief, oder die zwei Spiele gegen den FC Schalke im Pokalhalbfinale 1984. Aber auch eine bittere Niederlage.
Augenthaler: „Am Betzenberg war es immer schwer für uns. Das fing schon mit der Fahrt vom Hotel zum Stadion rauf an. Der Bus hatte den gleichen Weg wie die Fans, und die hauten an die Scheiben, da haben wir immer ein bisserl gezittert. Das Stadion war eng, eines der wenigen ohne Laufbahn damals. Ich habe mal gehört, dass einer beim Einwurf von einem Zuschauer mit so einem Hacklstock gestört wurde. Und der Briegel hatte immer den Kalle unter Kontrolle. Gern sind wir da nie hin. Wir haben rumgebastelt und uns gefragt, was helfen könnte, und dann haben wir es mal mit dem gelb-blauen Trikot probiert. Ob es dann wirklich an dem lag, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich ein Freistoßtor gemacht und wir haben 1:0 gewonnen. Die Trikots kamen dann immer bei besonderen Spielen zum Einsatz.“
„Er war der größte Trainer, unter dem ich je gespielt habe. Er hat mich gefördert und mir auch mal die Meinung gesagt, aber niemals beleidigend.”
Jean-Marie Pfaff
Pfaff: „Das Pokal-Halbfinale in Gelsenkirchen war ein historisches Spiel. Wir lagen schnell mit zwei Toren vorne, aber genauso schnell kassierten wir auch zwei. Trotzdem gingen wir mit einer Führung in die Pause, weil Michael Rummenigge gleich nach dem Schalker Ausgleich traf. In der zweiten Halbzeit drehte Schalke abermals das Spiel, und wieder war es Michael Rummenigge, der uns kurz vor Schluss in die Verlängerung rettete, wo uns Dieter Hoeneß dann zweimal in Führung brachte. Aber am Ende erzielte Olaf Thon den Ausgleich und wir mussten ins Wiederholungsspiel. Auch das war hart umkämpft, aber wir schafften es ins Endspiel gegen Borussia Mönchengladbach. Auch da ging es dramatisch zu, wir konnten uns erst im Elfmeterschießen durchsetzen. Damals rief mir Karl-Heinz Rummenigge beim Elfmeterschießen über den ganzen Platz zu: „Jetzt halt endlich mal einen.“ Für ihn war es das letzte Spiel vor seinem Wechsel zu Inter Mailand und er wollte unbedingt mit einem Titel den FC Bayern verlassen. Die Niederlage gegen den FC Porto im Europapokalfinale war dagegen sehr schlimm. Für Udo wäre der Sieg im Finale gegen Porto das i-Tüpfelchen auf seiner zweiten Amtszeit beim FC Bayern gewesen.“
Hoeneß: „Diese Niederlage war die bitterste in seiner Trainerkarriere.“
Dorfner: „Vor dem Finale kam er zu mir aufs Zimmer und wollte mich überzeugen, dass ich spiele, aber ich hatte einen Muskelbündelriss. Nach dem Abschlusstraining war klar, das wird nix. Es fehlten ja auch der Auge und der Roland Wohlfarth verletzt. Im Finale haben wir uns dann recht dumm angestellt. Wir waren ja bis kurz vor Schluss in Führung durch Wiggerl Kögl, und dann kriegen wir noch zwei. Udo Lattek war nach dem Spiel total geknickt. So hatte ich ihn vorher noch nie gesehen.“
Augenthaler: „Die Niederlage war bitter, wir waren die bessere Mannschaft. Aber nach der Landung in München wollte Udo uns wieder aufbauen. Und das hat er auch geschafft.“

Das Erbe
Nach der Niederlage gegen den FC Porto verließ Udo Lattek den FC Bayern – und arbeitete später in Köln und auf Schalke. Er ist bis heute der Bayern-Trainer mit den meisten Titelgewinnen in der Vereinsgeschichte. Was bleibt von ihm?
Pfaff: „Er war der größte Trainer, unter dem ich je gespielt habe. Er hat mich gefördert und mir auch mal die Meinung gesagt, aber niemals beleidigend. Insgesamt hat er einen großen Anteil an meinen Erfolgen und war extrem wichtig für meine Karriere. 1991 kam er mit seiner Frau zu meinem Abschiedsspiel nach Antwerpen. An dem Abend hat er zu mir gesagt: „Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass ich dich nicht nur als Torwart, sondern auch als Mensch kennengelernt habe und mit dir zusammenarbeiten konnte.“ Das hat mich extrem stolz gemacht. Wir sind bis zu seinem Tod Freunde geblieben.“
Saftig: „Der Udo war absolut in Ordnung, ein sehr empathischer Mensch. Ich habe ihn später noch in Köln ab und zu getroffen, weil ich ja später mit Erich Ribbeck in Dortmund war. Die beiden waren gut befreundet. Es gab so ein Lokal in Köln-Lövenich, wo sie mit ein paar anderen Leuten eine Art Stammtisch hatten, da war ich auch ab und zu dabei. Das war immer entspannt und lustig. Für mich waren das immer tolle Erlebnisse mit Udo und Erich.“
„Er ist auf jeden Fall durchs große Tor gegangen, und bis heute weiß beim FC Bayern jeder, was wir diesem einzigartigen Trainer und Menschen zu verdanken haben.”
Uli Hoeneß
Augenthaler: „Ich habe von ihm ein bisschen dieses Laissez-faire übernommen. Er hat erkannt, wenn eine Mannschaft funktioniert und hat dann lockergelassen. Und wenn wir uns mal danebenbenommen haben, hat er keinen riesigen Zirkus gemacht, sondern klar gemacht, bis hier und nicht weiter. Diese Balance zu finden, war sein großes Verdienst.“
Dorfner: „Auf die Gegner hat er uns eigentlich gar nicht groß eingestellt. Er hat nicht jeden Gegenspieler analysiert, sondern er hat uns starkgeredet, hat gesagt: ,Wir haben eine super Mannschaft und nichts zu befürchten. Geht’s raus und haut’s die weg‘!“

Hoeneß: „Beim Meisterfinale 1987 stand er am Ende in Unterhosen vor unserer Fankurve. Das war Udo. Er hat uns alle mitgenommen mit seinem einzigartigen Charakter. Als er damals ging, holte ihn Wolfgang Fierek aus dem Olympiastadion mit einem Traktor ab. „Resi, I hol di mit mei’m Traktor ab“ war damals ein Wiesn-Hit. Er ist auf jeden Fall durchs große Tor gegangen, und bis heute weiß beim FC Bayern jeder, was wir diesem einzigartigen Trainer und Menschen zu verdanken haben.“
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