Der Rollwagerl 93 eV feiert 30-jähriges Bestehen. Es ist der größte unabhängige inklusive Fanclub Europas. Wir trafen uns mit dem Vorsitzenden Kim Krämer sowie den Mitgliedern Uli Hofmann und Tanja Zeiler für ein Gespräch, wie man sich gemeinsam entwickelt: eine FC Bayern-Geschichte mit vielen Kapiteln, die nie abgeschlossen sein wird.
30 Jahre Rollwagerl 93 eV – Uli, Sie waren von Anfang an dabei …
Uli Hofmann: „Wir sprechen von einer Zeit, als am Marathontor des Olympiastadions immer die Tickets für Rollstuhlfahrer verteilt wurden. Der Leitspruch des FC Bayern lautete: Keiner muss draußen bleiben, jeder Rollstuhlfahrer darf rein. Aber die Tickets waren natürlich begrenzt: Brandschutz, Fluchtwege etc. Das Kreisverwaltungsreferat hat zwar oft ein Auge zugedrückt, trotzdem gab es irgendwann keine Planungssicherheit mehr. Je nach Attraktivität des Spiels bestand die Gefahr: Kommst du zu spät, kommst nimmer rein.“
Da war die Gründung eines Fanclubs naheliegend, um ein festes Kartenkontingent zu erhalten.
UH: „Ich gehörte zu den ersten Mitgliedern. Der Zuspruch war von Beginn an enorm, so groß hatte sich das keiner ausgemalt. Bis sich alles eingespielt hatte, waren es ziemlich turbulente
Zeiten (lacht). Als Peter Czogalla Vorsitzender wurde, hat er gleich Nägel mit Köpfen gemacht.“
Tanja Zeiler: „Bei der ersten Weihnachtsfeier hat er eine Tom- bola organisiert, von der noch heute alle schwärmen!“
UH: „Da gab es Stereoanlagen, Mountainbikes – alles war aufgestapelt wie auf dem Unterrang der Allianz Arena (lacht)! Zu der Zeit wurden auch offizielle Bestelllisten für Stadiontickets eingeführt – ab da wurde alles planbar, ein erster Meilenstein. Alles lief noch per Telefon, bei Peter läutete es Sturm.“
Kim Krämer: „Wichtig war auch, als gemeinnütziger Verein eingetragen zu werden, das erleichterte das Thema Spenden. Denn es gab große Ziele: Man wollte auch mal zu einem Auswärtsspiel …“
UH: „1996 war es bei einem Spiel in Stuttgart so weit: In einem ausrangierten Linienbus, in dem bis auf die letzte Sitzbank alles rausgerissen wurde – es wirkte wie eine Tanzfläche, auf der waren Ösen, Haken und Schlaufen befestigt, um die Rollstühle zu verzurren. Wir standen kreuz und quer in einem Meer aus Stolperfallen.“
TZ: „Komplettes Chaos, aber eine sehr, sehr lustige Fahrt! Raimond Aumann war damals auch dabei. Treff an der Theresienwiese, Raimond hatte ein FC Bayern-Cap für jeden. Wir Rollis auf großer Fahrt, es war so schön!“
UH: „Da trafen wir dann auch erstmals auf Rollis des VfB Stuttgart. Vorher war ein Austausch untereinander für uns nur schwer möglich, inzwischen ist die Vernetzung über verschiedene Verbände gewachsen.“
Wie kann man sich das Thema Inklusion vor 30 Jahren vorstellen – beim FC Bayern und in der Bundesliga generell?
KK: „Im Olympiastadion war der FC Bayern mit den Tickets hilfreich – aber insgesamt war alles weit von einer selbstbestimmten Teilhabe entfernt. Ich habe mir damals extra einen elektrischen Rollstuhl besorgt, um einen Platz oben an der Anzeigentafel selbstständig zu erreichen, weil es irgendwann schwierig war, für jedes Spiel eine Begleitperson zu organisieren.“
TZ: „… im Winter war es sowieso so kalt, dass selten jemand mitwollte mit einem …“
KK: „… und unten, wo die meisten Plätze waren, hattest du nur was davon, wenn Spieler mal für Autogramme vorbeigeschaut haben. Gut war da allerdings, dass man hier ab und zu ein Trikot ergattern konnte.“
UH: „Dieser Gang für uns war ein Schlauch am Unterrang, rund 80 Zentimeter breit – längst nicht für jeden Rollstuhl geeignet, und wenn du dich mal umdrehen wolltest: keine Chance, geschweige denn von einer Toilette … man saß die ganze Zeit verdreht. Oben, wo Kim saß, waren höchstens zehn Plätze. Und gezogen hat es wie Hechtsuppe (lacht).“
TZ: „Wenn die Plätze am Unterrang voll waren, durfte man auf die Tartanbahn – da waren im Winter die Eiszapfen am Dach gefährlich (lacht).“
Wie war die Situation vor 30 Jahren generell in Deutschland?
TZ: „Man hat nicht darauf geschaut: Kommen Rollis auch zurecht? 1988 wurden in München die ersten Busse und Bahnen umgerüstet. Aber noch heute ist vieles ausbaubar, obwohl es wesentlich besser geworden ist. Deutschland könnte sich viel im Ausland abschauen.“
KK: „In einem Raum, in dem zehn Menschen sind, hat vermutlich jeder von ihnen eine andere Bewusst- seinsebene von Inklusion. Selbst innerhalb unseres Rollwagerl 93 eV ist das so – und auch ich lerne immer dazu. Inklusion ist ein langwieriger Prozess, und eine Grundvoraussetzung ist Barrierefreiheit. Ein Beispiel ist der Bestellservice in der Allianz Arena, der gemeinsam mit der HypoVereinsbank entwickelt wurde: Es ist ein wundervolles Gefühl, wenn man als Mensch mit Behinderung seiner Begleitperson im Stadion eine Bratwurst bestellen kann und diese geliefert bekommt – und es nicht andersherum läuft. Stolz sind wir zudem auf unsere Pre-Paid-Kreditkarten im Rollwagerl-Design. Damit ermöglichen wir auch Mitgliedern, die aufgrund ihrer finanziellen und sozialen Situation keine Möglichkeit haben, ein Bankkonto zu eröffnen, einen selbstbestimmten Zugang zu diesem Service. Ein schöner Effekt ist, dass so kein Gefühl der „sozialen Scham“ aufkommt: Bei uns kann jeder diesen Service nutzen, der möchte.“
Was waren in 30 Jahren die größten Herausforderungen?
KK: „Unser oberstes Ziel ist eine selbstbestimmte Teilhabe. Dafür steht der Rollwagerl 93 eV. Das ist der Maßstab. Covid-19 hat uns große Probleme bereitet. Viele unserer Mitglieder leben in sozialen Einrichtungen und waren über Wochen in ihren Zimmern isoliert. Sehr erfreulich war die große Bereitschaft des FC Bayern, Konzepte für Risikogruppen aufzusetzen, um uns so schnell und sicher wie möglich wieder einen Zugang zu den Spielen zu ermöglichen. Während der Pandemie war Stillstand lange Tagesordnung. Aber wir wurden auch kreativer,
haben den Kopf nicht in den Sand gesteckt und das wichtige
Thema digitale Barrierefreiheit in Angriff genommen. Daran wird auch weiterhin gearbeitet.“
Was waren die Highlights in 30 Jahren?
TZ: „Zur ersten Weihnachtsfeier kam Thomas Helmer – er hat sich viel Zeit genommen.“
UH: „Karl-Heinz Rummenigge war auch mal bei uns. Er hat uns sehr aufmerksam zugehört – seitdem hat sich viel für uns verbessert.“
KK: „Ich denke insgesamt spontan auch an unsere erste inklusive Auswärtsfahrt nach Hoffenheim, das war 2016: eine mehrtägige Reise mit Menschen mit Sehbehinderung, Menschen mit Hörbehinderung, Menschen ohne Behinderung, Menschen mit Rollstuhl und auch zum Beispiel einem Vater aus Syrien mit seinen zwei Söhnen im Alter von acht und zehn Jahren. Organisatorisch war das eine außerordentlich umfangreiche Aufgabe: Barrierefreiheit beim Bus und im Hotel, Gebärdensprachdolmetscher etc. – aber der Aufwand hatte sich absolut gelohnt.“
Es geht beim Rollwagerl eV auch immer darum, die Menschen aus ihrer Isolation zu holen.
UH: „Ja, das bekommen wir immer wieder bestätigt: Wir machen Mut. Einige haben sich früher einfach zu Hause vor ihrem Fernseher verschanzt, ansonsten war nicht viel los. Aber als sie dann von diesem Fanclub gehört hatten, änderte sich vieles. Da hieß es dann: „Da findet was statt, da komme ich raus …“
TZ: „… es ist wie eine kleine Familie!“
Beim Bau der Allianz Arena war der Rollwagerl 93 eV von Beginn an eingebunden …
KK: „Das war ein wirklich gelungenes Zusammenspiel – und die Allianz Arena setzt bis heute Maßstäbe, auch weil wir das Thema Barrierefreiheit gemeinsam permanent weiterentwickeln. Da war der FC Bayern dem Rest schon 2002 weit voraus. Denn Inklusion kam im Grunde erst 2009 mit der UN-Behindertenrechtskonvention richtig auf die allgemeine Agenda.“
UH: „Parkplätze, Zugänge, Toiletten – alles ein Quantensprung. Wobei wir bei den Sitzplätzen erst noch einmal eingreifen mussten: So wie es anfangs geplant war, hätten wir bei Toren nichts gesehen, weil da vor dir alle aufspringen. In anderen Stadien ist es noch immer so, dass man die Vorderleute bitten muss, sitzen zu bleiben. Das funktioniert nur leider in der Praxis nicht.“
Wie seid ihr Bayern-Fan geworden?
TZ: „Ich bin seit 1996 FC Bayern-Fan – davor war ich bei den Löwen, aber jetzt gibt es nur noch die Roten für mich. Thomas Müller ist mein Lieblingsspieler – einen wie ihn gibt es nicht noch mal. Sammy Kuffour und Roque Santa Cruz mochte ich auch sehr gern.“
KK: „Bei mir ist es, seit ich acht bin – seit ich mal einen Aufkleber vom Wappen des FC Bayern gesehen habe.“
UH: „Mein Vater war ein Roter, hat immer im Radio gelauscht. Als ich dann nach München gezogen bin, war ich bei einem Spiel gegen Nürnberg – da merkte ich: Das ist eine eigene Welt. Und mit dem Rollwagerl 93 eV wurde es dann eine besondere Veranstaltung für mich. Ich wollte weitermachen, es sollte sich was bewegen, auch für uns.“
Was sind die größten Herausforderungen für die Zukunft?
KK: „Ohne Barrierefreiheit keine Inklusion. Wir sind auf einem guten Weg zu einer inklusiven Allianz Arena, aber es gibt noch zu tun – beispielsweise haben wir noch nichts für Autisten. Beim
FC Bayern wächst das Bewusstsein, dass Inklusion allgegenwärtig und niemals abgeschlossen ist. Das Gebärdenprojekt gemeinsam mit den Fans ist toll, der Erinnerungskoffer für Demenz-
kranke eine super Sache, wir waren Teil der Podiumsdiskussion am „Diversity Mountain“ des FC Bayern – der Verein macht wirklich viel. Darüber sind wir sehr glücklich.“
TZ: „Ich bin bei der Initiative „Gemeinsam Mensch“ aktiv, bei der wir Schulen und Firmen besuchen, um mit Selbsterfahrungsmodulen für mehr Verständnis zu sensibilisieren. Vielleicht ergeben sich da mal Doppelpässe mit dem FC Bayern in der Zukunft.“
UH: „Doppelpässe sind wichtig, um Berührungsängste abzubauen.“
Wie wird der 30. Geburtstag gefeiert?
KK: „Im Rahmen unserer Weihnachtsfeier, die wir aus logistischen Gründen im Januar umsetzen werden. Wir haben uns gewünscht, dass Präsident Herbert Hainer zu Besuch kommt – und er hat sofort zugesagt. Die Einladungen werden gerade verschickt, wir rechnen mit etwa 160 Leuten. Wir freuen uns auf die Zukunft.“
Porträt-Fotos: Sebastian Arlt
Mehr Informationen zu diesem und weiteren Themen rund um den FC Bayern findet Ihr hier:
Vorweihnachtlicher Besuch bei Freunden: