Es ist der 23. Februar 2011 und das San Siro in Mailand ausverkauft. Champions League-Achtelfinale, FC Bayern gegen Inter Mailand, die Neuauflage des Vorjahresfinals. Samuel Eto’o überläuft Anatolij Tymoschtschuk auf der linken Außenbahn, hat den Ball eng am Fuß und zwei frei stehende Mitspieler im Blick. Gleich klingelt’s hinter Thomas Kraft. Oder? Nein, plötzlich rutscht Philipp Lahm Eto’o im Strafraum zwischen die Beine und spitzelt den Ball ins Aus. Kein Tor, kein Elfmeter, einfach nur Ecke. Und Eto’o? Der klatscht mit Lahm ab und umarmt ihn, voller Bewunderung für diese Wahnsinnsgrätsche in höchster Gefahr. Wahrscheinlich gibt es für einen Verteidiger kein größeres Kompliment.
Zum Zeitpunkt des Spiels, im Februar 2011, ist Philipp Lahm erst einen Monat Kapitän bei den Bayern. Sein Vorgänger Mark van Bommel hatte die Mannschaft in der Winterpause verlassen. Auch in der Nationalmannschaft ist Lahm seit etwa neun Monaten neuer Kapitän – als Nachfolger von Michael Ballack.
Mit dessen Verletzung vor der Weltmeisterschaft in Südafrika verändert sich der Stil der Nationalmannschaft nachhaltig. Nationaltrainer Jogi Löw kündigt vor dem Turnier eine Revolution im Abwehrspiel an. „Unsere Abwehrspieler müssen auf den Beinen bleiben.“ Es ist nicht weniger als das Ende der ehrwürdigen Grätsche, wie sie von Abwehrspielern seit Erfindung des Fußballs gepflegt wird. Die Begründung des Bundestrainers: „Ich hasse dumme Fouls.“ Seine Rechnung ist einfach: Wer grätscht, könnte foulen und so die eigene Mannschaft durch Gelbe (und Rote) Karten und Standards in Gefahr bringen.
Neue Funktion der Grätsche
Als neuer Kapitän in Verein und Nationalmannschaft interpretierte Lahm seine Rolle völlig anders als die Alphatiere vor ihm. Und er verwandelte auch die Funktion der Grätsche – und machte seine Interpretation des Tacklings in den folgenden Jahren zu seinem Signature Move.
Die Grätsche ist tatsächlich ein archaisches Mittel und hat einige Nachteile. Ein Abwehrspieler, der sich hinlegt, kann nicht mehr weiterlaufen und im Kollektiv verteidigen. Er setzt alles auf eine Karte. Die Grätsche ist ein großes Risiko: Misslingt sie, gibt es im schlimmsten Fall Elfmeter und die Rote Karte. Gelingt sie, hat der Verteidiger immerhin eine klare Chance oder ein Tor verhindert. Allerdings klärt er den Ball unkontrolliert.
Philipp Lahm, mit einer außergewöhnlichen Spielintelligenz gesegnet, muss all das klar gewesen sein. Er sagte einmal: „Weil ich nicht besonders groß bin, muss ich mein Spiel so anlegen, dass ich das durch besonders fixes Denken ausgleiche.“ Durch seine schnelle Auffassungsgabe und herausragende Übersicht fügte er der Urversion der Grätsche entscheidende Elemente hinzu: den gleichzeitigen Ballgewinn und die damit kombinierte Spieleröffnung.
Im Champions League-Gruppenspiel gegen Manchester City in der Saison 2013/2014 setzt Jesús Navas in der eigenen Hälfte zum Sprint an. Navas ist schnell, aber Lahm hat Vorsprung. Er scannt, wittert, wartet auf den perfekten Zeitpunkt. Dann, zack, an der Mittellinie wirft sich Lahm in den Weg. Den rechten Fuß durchgestreckt, Richtung Ball. Er trifft das Spielgerät nicht mit der Fußspitze oder Sohle, sondern schnappt sich den Ball mit der Hacke und winkelt blitzschnell das Bein an. Navas läuft ohne Kugel ins Leere. In der gleichen Bewegung stößt sich Lahm mit den Händen vom Boden ab. Er steht, bevor sich der Spanier umdrehen kann – und spielt den Ball direkt in Richtung David Alaba. Der Gegenkonter läuft.
Diese besondere Spieleröffnungsgrätsche war kein Zufall. Lahm machte sie ständig. Egal, ob für die Nationalmannschaft oder den FC Bayern. Einmal sogar zweifach in einem Spiel, gegen denselben Spieler. Ivan Rakitić kann einem bis heute leidtun.
So gut wie immer erinnert man sich ja bei einem Tor an den, der’s gemacht hat. Manchmal noch an den, der die Vorlage gegeben hat. Selten, eigentlich aber nie, denkt man an den, der den Spielzug eröffnet hat. Das war in der Nationalmannschaft und beim FC Bayern nicht selten: Philipp Lahm. Spieler wie Barcelonas Dani Alves mögen die Außenverteidigerposition erstmals so interpretiert haben, als wären sie Aushilfsstürmer. Philipp Lahm allerdings interpretierte diese Rolle erstmals so, als wäre er Aushilfsspielmacher. Und später verschob ihn ja Pep Guardiola nicht zufällig ins Mittelfeld. Als Kapitän führte Lahm den FC Bayern und die Nationalmannschaft zu den größten Erfolgen, reckte im Konfettiregen den Champions League-Pokal in die Luft, die Meisterschale, den DFB-Pokal und den WM-Pokal.
Womöglich hatte Lahm seinen Jugendtrainer Hermann Gerland im Ohr, wenn er zur Grätsche ansetzte. Der „Tiger“ reklamiert nämlich zumindest eine kleine Mitverantwortung für die Erfindung der chirurgischen Grätsche. Er sagte einmal, er habe im Jugendspieler Philipp Lahm einen nahezu perfekten Fußballer vor sich gehabt. „Meine Frau hat mich mal gefragt, ob ich mich da nicht vertue. Da habe ich ihr gesagt: Hör auf, wenn das kein Superspieler wird, dann gebe ich meine Lizenz zurück und werde Volleyball- oder Wasserballtrainer. Ich war mir noch nie so sicher.“ Nur eine einzige Sache, sagte Gerland, die habe er Lahm noch beibringen können: „Ich habe einmal nach einem Spiel zu ihm gesagt: Philipp, wenn du zur Grätsche runtergehst, dann musst du den Ball auch haben.“
Dieser Forderung folgte der gelehrige Schüler Lahm und perfektionierte sie zur makellosen Defensivkunst. Nur wenige beherrschen diesen Move heute noch in ähnlicher Brillanz wie er. Aber manche eben doch.
Ein letztes Mal ein Champions League-Flashback. Gruppenphase im Herbst 2018, Bayern – Ajax. Über links rennt Serge Gnabry in den Strafraum, ist eigentlich schon durch und kurz davor, den Ball in die Mitte zu legen. Als ihm plötzlich, aus der Tiefe des Raums, ein langes Bein den Ball stibitzt. Gnabry läuft ins Leere, Ajax kontert längst. Denn der Verteidiger hatte den Ball direkt aus der Grätsche weitergespielt. Nach vorne. Der Spieler, an dem Gnabry verzweifelte, war: Matthijs de Ligt. Der Mann, der heute für uns verteidigt – wenn es sein muss, auch mit einer Philipp-Lahm-Gedächtnis-Grätsche.
Philipp Lahm war Teil der legendären Generation Wembley - jetzt die sechsteilige Doku-Serie mit FC Bayern TV PLUS anschauen:
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