Am 12. Januar feiert Ottmar Hitzfeld seinen 75. Geburtstag. In unserem Interview spricht der langjährige Cheftrainer über den Champions League-Sieg 2001, das dramatisch verlorene Endspiel zwei Jahre zuvor, die Entschlossenheit in den Augen eines Stefan Effenberg, das Phänomen Thomas Müller und den Brechertypen Harry Kane.
Das Interview mit Ottmar Hitzfeld
Herr Hitzfeld, wie sehen Sie Ihren 75. Geburtstag, was macht diese Zahl mit Ihnen, was bedeutet sie für Sie?
Hitzfeld: „Meine Geburtstage feiere ich eigentlich immer gleich: im kleinsten Kreis der Familie. Ich bin generell nicht so der Typ, der ständig zurückschaut – man muss im Jetzt leben, die Gegenwart ist das, was zählt. Für mich ist entscheidend, dass man zufrieden und glücklich mit dem Lebensinhalt ist, den man hat. Es geht mir gut, ich kann zufrieden sein. Ich bin dankbar.“
Wenn man Einschnitte anschaut: Mit 25 waren Sie beim FC Basel am Ball, die Olympischen Spiele lagen hinter Ihnen, wo Sie erstmals auf sich aufmerksam gemacht haben – was für ein Typ waren Sie damals?
„Ich weiß noch, wie ich mich als Amateurspieler beim FC Basel beworben habe. Ich rief beim Trainer an – damals stand ein Trainer noch einfach im Telefonbuch –, stellte mich vor und fragte, ob ich mal vorbeikommen könne. Er sagte, ich solle am nächsten Tag mittrainieren, ganz unkompliziert. Dann wollte er sofort einen Vertrag aufsetzen, ich habe ihn aber vertröstet, weil ich wollte, dass mein Bruder, ein Rechtsanwalt, alles erst einmal prüft. Es war insgesamt eine unbeschwerte Zeit. Nach meinem abgeschlossenen Studium konnte ich mich voll auf den Fußball konzentrieren.“
Mit 50 waren Sie Trainer des FC Bayern – ein paar Monate später im selben Jahr kam es zum Champions League-Finale 1999, der brutalsten Niederlage Ihres Lebens. Uli Hoeneß schwärmt bis heute, dass Sie damals die Kraft hatten, sofort nach vorne zu schauen…
„Es war auch für mich sehr schwer. Aber man muss im Momentum sein, die Situation erfassen und sofort analysieren: Wie geht es weiter? Alle waren am Boden zerstört, aber als Trainer hat man die Aufgabe, neue Zeichen zu setzen. Ich habe der Mannschaft gedankt, sie hatte ein gutes Spiel gemacht, wir waren die Besseren, es war Schicksal. Ich sagte: Wir müssen jetzt die Weichen stellen, wir müssen zusammenhalten. Vorwürfe, vor allem öffentliche, bringen uns nicht voran.“
Wurde da der Grundstein für den Champions League-Sieg zwei Jahre später in Mailand gelegt?
„Davon bin ich überzeugt. Es war wichtig, dass wir gleich wieder ein Ziel vor Augen hatten. Es war eine gefährliche Situation, wenn jemand im Interview das Falsche sagte – aber ich wusste, dass wir auch diese brutale Niederlage überstehen können und dann die Chance bekommen, noch Großes zu erreichen. Diese Mannschaft war außergewöhnlich.“
Sie gestanden mal, dass Sie in Ihrer Karriere oft Angst hatten: Angst, dass der Erfolg ausbleibt, Angst, aus dem Trainerkarussell zu fliegen – kann Angst auch ein Antrieb sein?
„Man muss negative Dinge immer, so gut es geht, ausblenden. Aber Angst hat zu einem gewissen Teil auch was Gutes: Sie verhindert, dass man überheblich wird. Nur darf man nicht ängstlich werden, das ist ein Unterschied, weil man dann das Feld auf Dauer Zweifeln überlässt. Man darf sich nicht zermürben.“
Sie haben es sich nie leicht gemacht – Ansprachen vor der Mannschaft bereiteten Sie drei Stunden vor, schrieben alles auf DIN-A4-Zettel… War akribische Vorbereitung das A und O?
„Das war mein Leben. Ich wollte nie in die Lage kommen, mir bei Niederlagen im Nachhinein etwas vorwerfen zu müssen. Wenn ich vorbereitet bin, kann mich auch nichts überraschen: Also muss man ein Konzept haben, zumal man sonst auch Gefahr läuft, in Stresssituationen emotional zu werden. Ich muss als Trainer, als Vorbild immer ruhig bleiben. Die Ansprachen habe ich dann frei gehalten, weil ich den Spielern in die Augen schauen wollte. Ich wollte die Reaktion sehen, ob ich alle erreiche, ob die Konzentration hochgefahren ist. Das sind Profis, die sind vor dem Spiel in einem Tunnel, aber als Trainer musst du an sie herankommen.“
Waren die Augen eines Stefan Effenberg, eines Lothar Matthäus, eines Oliver Kahn besonders – was haben Sie da gesehen?
„Entschlossenheit. Man musste sie mitnehmen, ihnen klarmachen, dass sie Vorbilder sind und Verantwortung übernehmen müssen, auch wenn es mal nicht läuft. Die Arbeit mit so vielen Alphatieren hat viel Kraft gekostet: Du wusstest am Morgen nie, was wieder in der Zeitung steht. Aber du brauchst solche Typen. Es ist kein angenehmer Job, sich bei Bayern auf dem Platz durchzusetzen, und ohne solche Typen gewinnst du die großen Spiele nicht. Einmal, in Old Trafford bei Manchester United, wollte David Beckham Stefan Effenberg die Hand geben, nachdem Effenberg ihn gefoult hatte. Aber Stefan schlug das in dem Moment aus: „Was willst du? Wir sind keine Freunde auf dem Platz!“ So ist eben Fußball, wenn du was reißen möchtest – danach kann man sich ja die Hand geben.“
Später litten Sie an Depressionen, gingen offen damit um, sind dadurch ein Vorbild für viele Betroffene – was ist Ihr Tipp bei diesem Tabuthema?
„Dass man darüber spricht. Das ist das Wichtigste, dass man sich nicht einredet, ich schaffe das allein, da muss ich durch. So kommt man nicht weiter. Man muss den Mut haben, sich zu öffnen und helfen zu lassen.“
Wie sehen Sie den FC Bayern heute?
„Ich denke, die Aufgabe für 2024 ist, wieder noch mehr das bayerische Selbstverständnis auf den Platz zu bringen. Die Mannschaft hat eine riesige Qualität, und wenn jeder giftig und agil ist, ist alles möglich. Die Reaktionen nach dem Pokal-Aus in Saarbrücken oder auch nach dem 1:5 in Frankfurt waren so, wie es bei Bayern sein muss. In diesem Club darfst du nie lockerlassen, keinen Tag, kein Spiel.“
Welcher Spieler imponiert Ihnen heute am meisten?
„Da müsste ich im Grunde alle aufzählen. Harry Kane als Brechertyp zu holen, war wichtig. Er hat eine Spitzenmentalität. Joshua Kimmich ist für mich ein Leader, der 2024 wieder kommen wird, da bin ich sicher. Thomas Müller ist ein Phänomen, der das Mia san mia verinnerlicht hat wie kein anderer. Ein fantastischer Charakter, jetzt schon eine Legende
Was wäre heute los, wenn ein Spieler einen anderen im Training ohrfeigen würde wie zu Ihrer Zeit Bixente Lizarazu Lothar Matthäus?
„Das war schon zu unserer Zeit ein Erdbeben (schmunzelt). Ich habe damals beide gleich in die Kabine geholt, eine Aussprache verlangt, eine Entschuldigung. Darum geht es: Du musst transparent sein und schnell klare Lösungen finden. Als Oliver Kahn als Kapitän die Weihnachtsfeier schwänzte, musste ich auch überlegen, was wir machen. Wenn ich den besten Torwart der Welt auf die Bank setze, schade ich mir selbst. Also gab es eine Geldstrafe. Die Spieler mussten wissen, dass auch bei den Leistungsträgern durchgegriffen wird.“
Nie vergessen werden die Fans Ihre Tränen zum Abschied in der Allianz Arena im Frühjahr 2008 – was bedeutet Ihnen der FC Bayern bis heute?
„Damals ging für mich eine Ära zu Ende. Der FC Bayern hat mir unglaublich viel gegeben, ich war sehr stolz, hier zweimal als Trainer gearbeitet zu haben. Für mich war immer wichtig, dass man auch als Mensch anerkannt wird – immer nur harter Hund, das geht nicht. Ich wollte Verständnis haben für die Spieler, den Verein, die Fans. Gegenseitiger Respekt ist elementar, das ist die Basis, und den muss man sich immer erarbeiten.“
Illustrationen: David Diehl
Das komplette Interview gibt es in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Mitgliedermagazins „51“.
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