
Hermann Gerland hat beim FC Bayern über 25 Jahre Talente entwickelt – unter anderem Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, David Alaba und Thomas Müller. Zudem feierte er als Assistent von Trainern wie Jupp Heynckes, Pep Guardiola, Louis van Gaal und Hansi Flick große Erfolge. Am 4. Juni feiert der „Tiger“ seinen 70. Geburtstag. Im Interview mit dem FC Bayern-Mitgliedermagazin „51" spricht er darüber, wie sein Unruhestand läuft, was junge Spieler haben müssen, um Profi zu werden und was ihm der FC Bayern bis heute bedeutet.
Das Interview mit Hermann Gerland
Herr Gerland, wie läuft Ihr Unruhestand?
Hermann Gerland: „Ich bin hauptsächlich als Co-Trainer der deutschen U21 im Einsatz, sehe viele Juniorenspiele, viele Talente – auch hier vor meiner Haustür beim FC Bayern. Weite Fahrten nehme ich nicht mehr so gerne auf mich, daher läuft zu Hause am Fernseher viel Fußball. Zudem schaue ich immer wieder bei der SpVgg Unterhaching vorbei, helfe da in der Jugendarbeit mit. Manche sind wissbegierig, manche denken, sie wissen es besser als ein 70-Jähriger, der sich sein ganzes Leben lang ausschließlich mit Fußball beschäftigt hat. Aber das ist dann deren Problem (schmunzelt).“

Wie sehen Sie die Funino-Spielform im Juniorenfußball?
„Wir haben das mit Hannes Wolf, dem DFB-Sportdirektor für den Nachwuchs, bei mir im Wohnzimmer diskutiert. Heute haben wir bessere Plätze, bessere Schuhe, bessere Bälle, bessere Ernährung, bessere medizinische Möglichkeiten – alles ist um ein Vielfaches besser als zu meiner Zeit. Aber: Wir haben damals 1:1-Situationen gespielt. Ohne Ende. Letztlich ist Fußball einfach: Wer 1:1 am besten auflösen kann, wird immer erfolgreich sein. Was will man mehr? Und mit dieser Spielform wird das viel mehr gefördert. Bei Elfjährigen musst du nicht mit der Taktiktafel ankommen.“
Ein Plädoyer für Freigeister.
„Ich habe neulich ein Juniorenspiel hier vom FC Deisenhofen gesehen. Die hatten einen frechen Stürmer, der immer gedribbelt ist. Er blieb zweimal hängen, aber jedes Mal mit ganz viel Pech. Da rief der Trainer: ‚Spiel deinen Ball ab!‘ Danach bin ich zu dem Trainer und fragte ihn, ob er Karl-Heinz Rummenigge kenne – und was er glaube, was passiert wäre, wenn ihm sein Juniorentrainer früher das Dribbeln verboten hätte. Er wäre nie Weltklasse geworden. Wir müssen Mut fördern. Wissen Sie, woran ich merke, dass ich ein gutes Fußballspiel sehe?“
Woran?
„Daran, dass ich nicht mehr auf die Uhr schaue. Ich bin ein Fußballfeinschmecker. Mich begeistert, wenn nach vorne gespielt wird, die Pässe in den Lauf kommen, sauber gegrätscht wird und einer wieder aufsteht, wenn er am Boden war. Das ist Fußball! Was wollen die Leute sehen? Gute Spiele, gute Spieler! Fußball muss begeistern. Und wen begeistert, wenn der Ball nur zwischen Torwart, Innenverteidiger und Außenverteidiger hin- und herwechselt? Für mich zählt Ballbesitz nur in der gegnerischen Hälfte. Da musst du dem Spiel deinen Stempel aufdrücken, dann steht ein Stadion wie ein Mann und schreit sich die Seele aus dem Leib. Wir müssen uns danach richten, was die Zuschauer sehen wollen. Hier in München wollen sie, dass die Roten gewinnen – und guten Fußball.“

Ist Fußball ein einfaches Spiel?
„Es ist einfach zu spielen – aber einfach zu spielen, ist sehr schwer.“
Fast philosophisch.
„Es geht um Grundlagen. Ich sage Ihnen noch etwas: Im Nachwuchs muss man hart trainieren. Thomas Müller hat immer anständig trainiert – und hat jetzt über 700 Spiele für Bayern plus 130 Länderspiele. Auch Philipp Lahm oder Basti Schweinsteiger waren ihre gesamte Karriere Spitzenniveau. Heute fallen die Spieler oft um wie die Fliegen.“
Wird das Spiel heute unnötig kompliziert gemacht?
„Ich habe oft den Eindruck, dass die Analysten heute wichtiger sind als die Co-Trainer. Pep Guardiola sagte mir mal: ‚Ich habe 100 Gedanken im Kopf – aber meine Aufgabe ist es, die wichtigsten 10 meinen Spielern mitzuteilen.‘ Sonst würde er die Spieler überfrachten.“
„Ich bin ein Fußballfeinschmecker. Mich begeistert, wenn nach vorne gespielt wird, die Pässe in den Lauf kommen, sauber gegrätscht wird und einer wieder aufsteht, wenn er am Boden war. Das ist Fußball!”
Hermann Gerland
Was müssen junge Spieler haben, um Profi zu werden?
„Ohne Talent geht es nicht. Du musst trainieren, du musst zuhören, du musst wollen. Und du musst dich messen an den Großen. Schon zu Zeiten im Olympiastadion bin ich bei unseren Profispielen immer zu den Plätzen gegangen, die für unsere Nachwuchsspieler freigehalten waren. Von 25 waren oft nur vier da – aber kurioserweise haben es genau diese vier später auch selbst in die Bundesliga geschafft.“
Der Wille zu lernen darf vermutlich auch als Profi nie aufhören.
„Als Louis van Gaal beim FC Bayern angefangen hat, hat er Flachpässe üben lassen, bis allen die Füße abgefallen sind. Und was haben wir damit für unvorstellbare Passmaschinen geschaffen. Die Jungs konnten dann plötzlich Pässe in einer Schärfe schlagen – und annehmen –, es war traumhaft. Vor Louis van Gaal war der FC Bayern: ‚Mia san mia, und gewonnen ist gewonnen.‘ Van Gaal hat alles auf eine neue Stufe gestellt. Er war anstrengend, aber er war ganz, ganz wichtig für die Geschichte dieses Vereins. Vor ihm war alles anders – und danach auch.“

Sie haben vorher schon Guardiola angesprochen – wie war es mit ihm?
„Pep ist ein Genie. Auch wenn wir 3:0 geführt haben, hatte er noch immer eine neue Idee. Ab und zu dachte ich, jetzt sollten wir einen Verteidiger einwechseln – aber Pep brachte einen Offensivmann, und ein paar Minuten später war klar: richtige Entscheidung. Ich werde oft gefragt, wer der beste Trainer war, mit dem ich je gearbeitet habe. Das kann ich nicht sagen. Carlo Ancelotti hatte in München eine schwere Zeit – aber das ist ein erfolgreicher Coach. Louis, Pep, Jupp Heynckes – Hansi Flick hat hier alles abgeräumt … Ich kann nur eines sagen: Besessen vom Fußball sind sie alle, und sie alle haben auch menschliche Größe, Leidenschaft, Herz. Denn nur dann gehen die Spieler für dich durchs Feuer. Ich bin froh, dass ich an der Seite von so vielen super Trainern arbeiten durfte.“
Vermutlich werden die auch sagen, dass sie froh waren, Sie an ihrer Seite gehabt zu haben.
„Es hat sich jedenfalls keiner danach beschwert (schmunzelt). Van Gaal sagte mir, er schaut sich das mit mir sechs Wochen an, wenn es nicht passt, bin ich weg. Die erste Aufgabe war, dass ich ihm über jeden unserer Spieler drei Sätze aufschreiben sollte, als Charakterisierung. Am Ende der Saison sagte er zu mir, er habe es noch nie erlebt, dass jemand mit allen Einschätzungen richtig liegt – und dass er alles teilt, was ich aufgeschrieben hatte.“

Disziplin ist auch wichtig, um beim FC Bayern Profi zu werden. Haben Sie für sich eigentlich spezielle, strenge Richtlinien?
„Wenn ich zu spät komme, ist das für mich eine Katastrophe. Ich war ein einziges Mal in meinem Leben zu spät, bei Pep vor einem Freundschaftsspiel gegen den FC Barcelona. Es war um das Stadion herum alles dicht, man kam nicht durch. Als ich in die Trainerkabine kam, sahen mich alle an und sagten: ‚Einen Stau früher nehmen!‘ Das war eigentlich immer mein Spruch. Ich hatte es verdient, dass sie mich da hochgenommen haben.“
Was bedeutet Ihnen der FC Bayern bis heute?
„Wir drücken dem FC Bayern zu Hause bei jedem Spiel die Daumen, es ist mit Bochum mein Herzensverein. Und ich finde es schön, dass ich jederzeit vorbeikommen kann – zum Beispiel auch immer unter Thomas Tuchel. Neulich habe ich zu Halil Altintop, dem Sportlichen Leiter am FC Bayern Campus, gesagt: ‚Ihr müsst mal wieder öfter gewinnen!‘ Dann sagte er: ,Tiger, du sagst das falsch: nicht ,Ihr‘ – sondern ,wir‘!‘ Es ist schön, weiter als Teil des FC Bayern betrachtet zu werden.“
Das ausführliche Interview gibt es im aktuellen FC Bayern-Mitgliedermagazin „51“.
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