In den 1970er Jahren gewann Hans-Josef „Jupp“ Kapellmann mit dem FC Bayern dreimal den Landesmeistercup, danach fand er als Arzt seine Berufung. Am 19. Dezember feiert er seinen 75. Geburtstag. Kurz davor besuchte ihn das FC Bayern Mitgliedermagazin „51“ und lernte einen Mann kennen, der immer noch neugierig ist.
Früher auf dem Rasen ist ihm nie einer entwischt. Aber heute ist Jupp Kapellmann abgelenkt, und das hat Bosc ausgenutzt. Bosc ist sein Hund, schwarz und groß. Irgendwann nachmittags hat er sich davongestohlen, und jetzt steht sein Herrchen auf dem Kiesweg vor der Finca und ruft und pfeift. Sein Sohn und seine Tochter mit ihrem Verlobten sind ausgeschwärmt, um zu suchen. Mit Fahrrad, Motorroller und zu Fuß durchkämmen sie die Gegend. „Einmal ist er bis runter zum Hafen gelaufen“, sagt Kapellmann. Der Hafen ist weit weg. Alle sind beunruhigt, hoffentlich passiert ihm nichts.
Bis Bosc ausbüxt, ist es ein unaufgeregter Tag auf Mallorca. Rund um Kapellmanns Finca leuchten die Orangen an den Bäumen in der immer noch warmen November-Sonne. Auch Zitronen wachsen hier und Mandarinen, Pampelmusen, Kakis, Granatäpfel, Oliven. Zwei Gänse schnattern, ab und zu schreit Asno, der Esel, ansonsten herrscht Ruhe. Kapellmann hat sich ein kleines Paradies geschaffen, oberhalb von Port de Sóller im gebirgigen Nordwesten der Insel. Vor gut 30 Jahren hat er die Finca gekauft. Er schaut sich um. Der Hang gehört noch zu seinem Grundstück, und der auch, eigentlich das ganze Tal, erklärt er: „Manchmal denke ich, das hier ist eigentlich gar nicht meine Welt. Ich stamme aus dem deutschen Mittelstand, mein Vater war Maurer. Bei Franz Beckenbauer war es genauso, der war Giesinger, sein Vater Postler. Der war auch nicht vorgesehen für diese Welt. Wir sind da einfach hineingepustet worden.“
Eine gute Portion Ungläubigkeit schwingt schon mit, wenn Kapellmann zurückschaut auf sein Leben. Im Dezember wird er 75, und seine erste Karriere, die als Fußballer, scheint für ihn so weit entfernt zu sein wie das Meer, das man von seiner Terrasse aus am Horizont blau schimmern sieht. Nichts deutet in seiner Finca darauf hin, dass hier jemand wohnt, der mit dem FC Bayern dreimal den Landesmeistercup, den Weltpokal und die Deutsche Meisterschaft gewonnen hat. Und Weltmeister ist er ja auch noch. Nur die Menschen um ihn herum erinnern ihn manchmal daran. Einmal stand ein Nachbar vor der Tür und bat um ein Autogramm, erzählt Kapellmann und muss heute noch lachen. Der Nachbar heißt Herbert Grönemeyer. „Ich wollte dann natürlich auch ein Autogramm von ihm.“
„Wir sind in diese Welt einfach hineingepustet worden.”
Jupp Kapellmann
Greifbarer ist für Kapellmann seine zweite Karriere als Arzt. Bis vor zwei Jahren hat er noch praktiziert. In Port de Sóller hat er gefühlt den halben Ort ärztlich versorgt. Dem Bäcker verschaffte er ein künstliches Hüftgelenk, jetzt bekommt er das Brot immer umsonst. Die Dankbarkeit der Menschen ist die schönste Bestätigung für die Entscheidung, Mediziner zu werden. „Der Beruf als Arzt hat mir wahnsinnig viel gegeben“, sagt er. Auch auf seine Fußballkarriere ist er stolz, natürlich, aber Fußball sei eben nur die schönste Nebensache der Welt, nicht mehr. „Was bedeutet es schon, wenn du viel Geld hast?“, meint Kapellmann. „Häuser, Autos, Börse – das ist doch nicht alles!“
Verteidiger mit Vorwärtsdrang
Aber mit Fußball ging alles los, weit weg von Mallorca und ganz klein. In einem Hinterhof in Bardenberg bei Aachen kickte der kleine Jupp mit seinem Vetter Hans immer auf zwei Tore. „Ich habe die typische Karriere gemacht“, sagt Kapellmann. Er spielte beim örtlichen Fußballverein, schaffte es in diverse Auswahlteams und unterschrieb schließlich mit 17 bei Alemannia Aachen seinen ersten Profivertrag. Kapellmann war Rechtsverteidiger, lauf- und zweikampfstark und einer, der gern nach vorne marschierte. „Das war damals neu auf dieser Position“, erklärt er. 1973, inzwischen war er 23 und spielte beim 1. FC Köln, klopfte der FC Bayern an. „Ich war ein gesuchter Mann und hatte damals wie auch Franz Beckenbauer ein Angebot aus Monaco vorliegen. Aber Bayern wollte mich unbedingt“, erzählt er. Und er wollte nach München. Der Kölner Vereinsarzt hatte ihn für die Medizin begeistert und er hatte ein Studium begonnen. In München konnte er das fortsetzen. Er ließ sich das sogar vertraglich zusichern. „Ich hatte zur Bedingung gemacht, dass ich für Examina und Prüfungen freigestellt werde“, erzählt er. Wenn er dann mal früher aus einem Trainingslager oder von einer Südamerikareise nach Hause zurückkehren durfte, kam das nicht immer gut bei den Mannschaftskollegen an. Erst recht nicht angesichts der Ablöse, die er gekostet hatte: 800.000 Deutsche Mark, Bundesliga-Rekord. „Mit Mehrwertsteuer war das rund eine Million Mark“, rechnet er vor. „Gerd Müller hat immer gesagt: ‚Eine Million! Das ist doch Wahnsinn!‘ Aber für die Summe konnte ich ja nichts.“
Kapellmann ließ sich nicht irritieren. Für ihn war es nie Fußball oder Medizin, sondern immer Fußball und Medizin. „Es stand ja in meinem Vertrag. Und ich habe auch meine Leistung gebracht. Den Cooper-Test habe ich immer mit Abstand gewonnen. Es gab also nichts zu kritisieren.“ In Trainer Dettmar Cramer fand er einen Unterstützer. „Cramer hat immer gesagt, dass auch für so einen Sonderling wie mich Platz in der Mannschaft sein musste“, erinnert sich Kapellmann. „Ich hab’s durchgezogen. Von meinen 52 Prüfungen musste ich keine einzige wiederholen.“
Besuch von Beckenbauer
Der „Sonderling“ fühlte sich in der Mannschaft aber schon wohl. Sein medizinisches Fachwissen war gefragt und er gab es gern weiter, brachte Oberschenkelknochen mit, Kniegelenke und einmal sogar ein in Formalin eingelegtes Gehirn. Damit die Kameraden das auch mal sehen. Kapellmann selbst hatte zwei Kreuzbandrisse und Kahnbeinfrakturen, heute hat er ein künstliches Hüftgelenk. Seine erste große Verletzung passierte kurz nach seinem Wechsel zum FC Bayern, bei einem Länderspiel gegen Österreich. Er weiß es noch genau: Ein Pass von Beckenbauer blieb im nassen Rasen hängen. Kapellmann wollte den Ball weggrätschen, ein Gegner stürzte über sein Bein, und schon war’s passiert. Kreuz-, Innen- und Außenband waren kaputt. „Ich konnte auf dem Bein nicht mehr stehen.“ Er wurde operiert. „Und der Erste, der an meinem Krankenbett stand, war Franz.“ Wer auch sonst, meint Kapellmann. Denn keiner habe sich so um das Team gekümmert wie Beckenbauer. „Unser Zusammenhalt war der große Verdienst von unserem Kapitän Franz.“ Und ohne den besonderen Teamgeist wäre der Landesmeistercup-Hattrick nie möglich gewesen, da ist er sich sicher. „Jeder war für den anderen da, jeder hat Leistung gebracht. Nur so konnten wir das mit Bravour meistern.“
„Man muss sich immer Ziele setzen, das hält jung!”
Jupp Kapellmann
Wenn Kapellmann von seinen sechs Jahren als Bayern-Profi erzählt, spricht er nicht von den großen Titeln, nicht von seinem Tor im Weltpokalfinale gegen Belo Horizonte, nicht von seinen zwei Vorlagen in drei Europacup-Endspielen. Kapellmann kommen erst mal viele kleine Geschichten in den Sinn, Kuriositäten abseits des Rasens. Dass Manager Robert Schwan bei jeder Abfahrt von der Säbener Straße als Letzter in den Bus einstieg, weil er immer persönlich überprüfte, ob die Geschäftsstelle auch wirklich abgeschlossen war. Dass er mit „Katsche“ Schwarzenbeck bei einem gemeinsamen Familienurlaub wie verrückt am Sandstrand in Holland trainierte. Dass Karl-Heinz Rummenigge einmal bei einem Trainingslager im Ausland heftige Bauchschmerzen bekam. Er tastete ihn ab, und schnell war klar: Der Blinddarm muss raus. Kapellmann war mit im OP und beobachtete schockiert, wie der Operateur während des Eingriffs seelenruhig eine Zigarette rauchte. Zum Glück ging alles gut. Er muss grinsen. „Ich glaube, diese Geschichte kennt Karl-Heinz selbst noch nicht.“
Nach seiner Bayern-Zeit und einem kurzen Abstecher zu 1860 München beendete Kapellmann 1981 seine Fußballkarriere. Kurzzeitig war er noch Manager bei 1860, zog dann aber einen Schlussstrich. Es ging ihm zu viel ums Geld. „Das war nichts für mich“, sagt er. Stattdessen konzentrierte er sich jetzt voll auf die Medizin. Er machte seinen Facharzt für Orthopädie, wurde Leitender Oberarzt in Düsseldorf, eröffnete eine Praxis in Rosenheim, stand viele Stunden im OP. Hüft- und Knieprothesen, Kreuzbänder, Achillessehnen … Kapellmann operierte alles, was sein Fachgebiet hergibt. Dann kam ein Angebot aus Saudi-Arabien. Eine eigene Abteilung, ein eigenes Team aufbauen, das reizte ihn. „In Deutschland hatte ich mein Leben, aber es war zur Routine geworden“, sagt er, „Saudi-Arabien war noch mal eine Herausforderung.“
Mit 60 Jahren startete Kapellmann also ein neues Abenteuer, lernte Arabisch – seine fünfte Fremdsprache nach Englisch, Spanisch, Französisch und Niederländisch – und blieb fast acht Jahre. Die fremde Kultur mit ihren ganz eigenen Strukturen faszinierte ihn. Auch die Wüste mit ihrer Weite und Einsamkeit. „Ich habe in Saudi-Arabien viele Freunde gewonnen, aber auf Dauer leben könnte ich dort nicht“, sagt er. 2018 kehrte er nach Deutschland zurück, studierte noch einmal (Sozialmedizin) und übernahm eine leitende Funktion in einer Rehaklinik in Thüringen. Vor knapp zwei Jahren setzte er sich aber dann doch zur Ruhe, er war 73. „Ich habe überlegt, ob ich noch mal was anderes mache. Aber dann dachte ich mir: Wofür hast du eigentlich eine Finca? Du musst doch nicht immer malochen.“
Jetzt lebt er also abwechselnd auf Mallorca und in seinem Haus bei Rosenheim. Jeden Tag fährt er Rad und kümmert sich um seine Tiere und Pflanzen. Und sieben Kinder sowie Lebensgefährtin Angelika fordern natürlich auch seine Aufmerksamkeit. Vor Kurzem ist er zum zweiten Mal Großvater geworden, ein dritter Enkel ist unterwegs. Und dann ist da noch die uralte Olivenölmühle in seiner Finca, die er wieder zum Laufen bringen möchte. „Man muss sich immer Ziele setzen“, sagt er, „das hält jung.“ Auch Bosc, Kapellmanns Hund, hat sich das zu Herzen genommen. Abends, es ist schon stockdunkel, wird er gefunden, ein paar Kilometer entfernt. Hund und Herrchen haben beide verstanden: Nur wer hinter Grenzen schaut, kann Neues entdecken.
Der Text erschien in der Dezember-Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“:
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