Genau sieben mittelgroße Schritte sind es rückwärts, so wie immer. Genau wie die Position: ganz ruhig, leicht nach links versetzt zum Ball. Die Augen sind nur noch auf den Elfmeterpunkt gerichtet. Kurz zuvor, da hat er noch den runden, weißen Punkt auf dem Rasen inspiziert, sich jede Unebenheit eingeprägt, den Ort, wo er den Ball ablegt, genauestens gescannt. Auffällig lang und behutsam, fast vorsichtig in beiden Händen hat Harry Kane den Ball dorthin getragen. Nun soll gegen die TSG Hoffenheim folgen, was immer folgt, wenn Kane antritt: ein Elfmetertor.
Die Statistik pulverisiert
Es ist einer der vermeintlich einfachsten Schüsse des Fußballsports – einer, der aus Helden manchmal tragische Helden macht. Eine unglaublich sichere Torchance: aus elf Metern, ohne Gegenspieler, bei ruhendem Ball auf das 7,32 Meter breite und 2,44 Meter hohe Tor. Laut bundesliga.com liegt die Trefferquote laut Statistik bei 77 Prozent. Harry Edward Kane, geboren vor 31 Jahren in Walthamstow im Osten Londons, hat diese Statistik verschoben. Nein: Er hat sie für sich persönlich pulverisiert. „Das ist schon krass, eine brutale Qualität, die vom Amateur da draußen unterschätzt wird, weil man denkt, den Ball sollte man als Fußballprofi aus elf Metern ins Tor bringen“, hatte Joshua Kimmich nach dem 1:0 von Mönchengladbach gesagt. Das Siegtor hatte Harry Kane erzielt. Vom Elfmeterpunkt.
92 Elfmeter, 81 verwandelt
In seiner Karriere hat der Torjäger des FC Bayern bereits 92 Elfmeter geschossen, 81 davon verwandelt. Das ergibt mehr als 88 Prozent Trefferquote. In der laufenden Saison, in der Kane am vergangenen Spieltag gegen Hoffenheim per Strafstoß zur 3:0-Führung und vier Tage zuvor in Mönchengladbach zum 1:0-Endstand vom Elfmeterpunkt getroffen hat, liegt er sogar bei 100 Prozent. Von sieben Elfmetern hat Kane alle sieben verwandelt. Für den FC Bayern führten wettbewerbsübergreifend 18 von Harry Kane geschossene Strafstöße zu 18 Toren. Der Handelfmeter am Mittwochabend gegen Hoffenheim war bereits der zwölfte verwandelte Elfmeter von Harry Kane für den FC Bayern in der Bundesliga.
Über die Leiter in die dunkle Tiefe hinab
Die Menschen in der Allianz Arena, alle um ihn herum, sie haben sich von ihren Plätzen erhoben, die Mobiltelefone gezückt. So wie sie das immer tun. Was folgen wird, das wissen sie. Weil Harry Kane etwas gelingt, was bislang kaum jemandem sonst in der großen Historie der Fußball-Bundesliga gelungen ist. Die Augen von 75.000 Fußballfans sind auf den Torjäger des FC Bayern gerichtet. Kane stört das nicht, er ruht längst tief in sich selbst. Kane kontrolliert seine Atmung, hört all die Menschen nicht, nicht die Pfiffe der gegnerischen Fans, nicht die Rufe von der Tribüne. Er sieht die Menschen nicht mehr, die vielen Handys, die nun filmen. Harry Kane sieht nur den Ball. Und das Tor.
Dann atmet er noch einmal aus, ist in den Sekunden zuvor immer tiefer hineingestiegen, wie eine endlos lange Leiter hinab, Sprosse für Sprosse in den dunklen Tunnel der Konzentration. Dann setzt er sich in Bewegung, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, die Schritte fest, kontrolliert, aber doch so voller Leichtigkeit und Anspannung in einem - eine ganz eigene, merkwürdige Symbiose ist das: vier schnelle Schritte, der letzte leicht verzögert, der Blick geht kurz nach oben, der Oberkörper richtet sich auf. Dann der Kontakt mit dem rechten Innenfuß, ein Bruchteil nur, in dem der Fuß den Ball trifft, satt, fest, ihm eine Richtung gibt und ihn losschickt in Richtung Tor.
Ein Elfmeter wie eine Symphonie
Er ist eine eigene Symphonie, wie ein besonderes Kunstwerk, dieser Elfmeterschuss von Harry Kane. Immer bis ins letzte Detail gleich wirkt er, wenn man zusieht, nichts wird dem Zufall überlassen – und doch, verrät Harry Kane, ist nichts wie immer. Jeder Strafstoß steht für sich selbst. „Jeder Elfmeter ist anders“, findet Kane, „manchmal schaue ich mir den Torwart an, manchmal suche ich mir eine Ecke aus. Es ist eine Sache von viel Training und Routine.“
Seinen letzten Fehlschuss gab es bei der WM 2022 in Katar im Viertelfinale gegen Frankreich. Ein Spiel, in dem Harry Kane gleich zweimal zum Elfmeter antrat. Den ersten, zum zwischenzeitigen 1:1, wuchtete er wie gegen Hoffenheim halbhoch ins linke Eck. Den zweiten dann, es scheint wie ein Fehler im System, setzte er zentral über die Querlatte. Dabei zielt Harry Kane so gut wie nie in die Tormitte. Von den 18 verwandelten Elfmetern für den FC Bayern wählte Kane nur ein einziges Mal die Tormitte – sechsmal schoss er von sich aus nach rechts, elfmal nach links. Zehnmal schoss er flach, achtmal halbhoch, nie unter die Latte. Getroffen hat er seitdem immer.
Elfmetertore für die Familie
So wie auch gegen Hoffenheim. Mit Wucht schlägt der Ball halbhoch im linken Eck ein, Harry Kane, auch das geschieht immer, küsst den Ringfinger, an dem er seinen Ehering trägt. Ein Zeichen dafür, erzählte er einmal, um seiner Familie etwas zurückzugeben, zu zeigen, wie wichtig seine Frau und seine Kinder ihm sind.
Hier geht's zu den Highlights der Partie gegen Hoffenheim - und zum Elfmetertor:
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