
Bayerns neuer Flügelstürmer Luis Díaz ist eine Rakete. In seiner Jugendzeit in Kolumbien war er ein Spätzünder, in München aber ist er sofort durchgestartet. Uns erzählte er, was er von seinem Vater auf dem Bolzplatz in seinem Heimatort gelernt hat, wie ihn diese Zeit bis heute prägt und was er mit dem FCB vorhat.
Dass der kolumbianische Flügelstürmer über die Umwege Portugal und Nordengland mal beim FC Bayern landen würde, war nicht wirklich vorherzusehen. „Als Kinder waren wir immer Riesenfans von der kolumbianischen Nationalmannschaft. Falcao, Juan Cuadrado oder auch Torwart David Ospina waren unsere Vorbilder beim Kicken. Und natürlich James Rodríguez.“
„Schweinsteiger – oder so?“
In seiner Heimat, der Stadt Barrancas im brütend heißen Nordosten Kolumbiens, flackert bei Familie Díaz täglich Fußball über den Fernseher: „Ich habe schon immer sehr viel Fußball geschaut. Wenn ich zu Hause bin, gucke ich eigentlich immer alles. Meine ersten Erinnerungen an den FC Bayern sind Robben und Ribéry“, erzählt Luis Díaz von seiner Jugendzeit. Also doch. Als Vorbild Bayerns beste Flügelstürmer, in deren Fußstapfen Díaz jetzt treten will. „Und dann war da auch ein Spieler namens ‚Schweinsteiger‘, oder so, ja? An das Champions League-Finale 2013, das Bayern gegen Dortmund gewonnen hat, kann ich mich sehr gut erinnern. Das hat mich geprägt.“

Wie schnell die Zeit vergeht. Und wie weit dann doch 8.700 Kilometer sind. Der FC Bayern hat ihn auf dem TV-Bildschirm beeindruckt. Aber in Barrancas sieht die Welt anders aus. Die Straßen sind staubig, das Klima tropisch-drückend mit Temperaturen ganzjährig um 30 Grad. Der Ort liegt zwischen der Grenze zu Venezuela und dem Gebirge der Sierra Nevada de Santa Marta, fernab der wichtigen Handels- und Verkehrsrouten Kolumbiens. Große Mangobäume spenden Schatten, Tuk-Tuks knattern gemächlich hin und her, irgendwo läuft immer Musik. Das Leben der etwa 20.000 Einwohner schreitet langsam voran. „Mein Barrancas ist wunderbar!“, sagt Díaz. „Für nichts würde ich diese Heimat eintauschen wollen. Ich liebe es und habe immer ein bisschen Sehnsucht nach meiner Familie, meinen Schulkameraden und Jugendfreunden, von denen fast alle noch dort leben.“
Damals, als „Robbery“ im TV für Begeisterung sorgte, war Luis noch „Luis Fer“, wie seine Mutter ihn nennt. Direkt vor dem Haus der Großeltern leitete sein Vater Manuel Díaz eine Fußballschule. Bis vor Kurzem betreute er über 100 Kinder in vier Altersklassen.
„Meine erste Erinnerung an den FC Bayern? Robbery!”
Luis Díaz
Im ländlichen Kolumbien gibt es kaum Vereinsstrukturen – eine „Fußballschule“ bedeutet meist nur, dass jemand ein regelmäßiges Training organisiert. Für Vater Manuel Díaz war es aber eine Herzensangelegenheit, seinem Sohn Luis und dessen jüngeren Brüdern Jesús und Roller (gesprochen: Rodjer) die Grundlagen der Fußballkunst beizubringen. „Schnelle Haken, enge Ballführung. Díaz war schon immer ein Spieler, der auch mal gern zaubert. Aber zum Wohle der Mannschaft.“ Man könnte meinen, Vater Manuel Díaz beschreibt Luchos Leistung beim 6:0 gegen RB Leipzig, als er unter anderem einen Treffer von Harry Kane per Hackentrick vorbereitete. Aber es sind seine Erinnerungen an das Talent seines Sohnes auf dem heimischen Dorfplatz. „Unser Vater hat Wert darauf gelegt, dass wir viel mit dem Ball arbeiten“, erinnert sich Lucho an diese Zeit. „Also gab es viele spielnahe Übungen. Ansonsten ging es immer um Ballkontrolle und Passspiel. Und er hat immer gesagt: Goles son amores – Tore sind Liebe.“
In der Scouting-Wüste
Der schlaksige Díaz sorgte alsbald für viel Liebe, nur war die Provinz La Guajira damals eine regelrechte Scouting-Wüste – Talentspäher der großen Clubs kamen selten vorbei. Als er 2015 volljährig wurde, spielte Díaz noch immer bei einem unbedeutenden Amateurverein in der Nachbarstadt Albania. Kein großer Club hatte ihn gefunden.

Wieder war es Papa Manuel, der die Initiative ergriff und einen entfernten Bekannten beim Club Junior de Barranquilla kontaktierte. „Und den haben wir gebeten, dass ich mal an einem Probetraining teilnehmen konnte“, erinnert sich Luis Díaz. Vielleicht die letzte Chance auf eine Profi-Fußballkarriere. Die Rot-Weißen aus der Hafenstadt an der Karibikküste – auch Haifische genannt – sind eine große Nummer im kolumbianischen Fußball, das Estadio Metropolitano ist das größte im Land. Dass der Verein einen schmächtigen, mittlerweile fast 19-Jährigen verpflichtet, war jedoch äußerst unwahrscheinlich.
Lucho heißt übersetzt: „Ich kämpfe“
Für Díaz begann eine extrem schwierige Lebensphase. Seine Probezeit wurde nur von Tag zu Tag verlängert. „Wochenlang wartete ich auf den Satz: ‚Du kannst morgen wiederkommen‘“, erinnert er sich. Mit jedem Tag wurde „Luis Fer“ mehr zu „Lucho“. „Lucho“ ist ein Spitzname für „Luis“, heißt aber im Spanischen auch „ich kämpfe“. „Jeden Abend habe ich mir eingeredet, dass ich nicht aufgeben darf, dass ich weiterkämpfen muss, weil ich es auch für meine Familie schaffen muss. Das hat mich motiviert.“
„Jeden Abend habe ich mir eingeredet, dass ich weitermachen muss – für meine Familie. Das war meine Motivation.”
Luis Díaz
In der Millionenmetropole Barranquilla lebte er zunächst bei einem Großonkel „in einem ziemlich heißen Viertel“, so Díaz heute. „Alle paar Tage wurde jemand überfallen, es gab Diebstähle, auch Morde.“ Díaz vermisste seine Familie, das Kleinstadtleben in Barrancas, wo sich jeder kennt. „Das Geld hat vorne und hinten nicht gereicht. Der Weg zum Training war total weit, und ich hatte nur ein paar Tausend Pesos pro Tag, also vielleicht ein, zwei Euro.“ Díaz verzieht das Gesicht. Nur wenige Jahre sind seitdem vergangen. „Manchmal war nicht mal genug zum Essen da.“
Dann kam die Zusage. Der Traum einer ganzen Familie schien sich zu erfüllen. Die Trainer bei Junior waren überzeugt von seinem Talent. Aber ebenso waren sie besorgt. „Wir wurden jeden Tag gewogen, und bei mir waren es am Anfang 58 Kilo, stell dir das mal vor! Ich war wirklich dünn. Ich hatte überhaupt keine Muskeln“, sagt Díaz selbst. „Aber für mich war das nie ein großes Thema. Ich wollte einfach nur Fußball spielen und besser werden.“

Bei Junior durchlief er ein spezielles Trainingsprogramm mit Muskelaufbautraining und Ernährungsplan. Er verstand, wie wichtig die Ernährung auf diesem Spielniveau ist, schnell gewann er an Masse und Kraft, ohne seine Leichtigkeit zu verlieren. Aber er wurde beim lokalen Zweitligisten Barranquilla FC geparkt. Der große Fußball war wieder in die Ferne gerückt.
Dann aber suchte man für eine Südamerikameisterschaft der indigenen Völker, die zum ersten Mal ausgetragen wurde, in Kolumbien talentierte Spieler mit besonderer ethnischer Zugehörigkeit. Fast die Hälfte der Bewohner der Provinz La Guajira sind Wayú-Indigene. Die Familie Díaz selbst eigentlich nicht, wie Díaz‘ Mutter Cilenis erzählt, aber die Chance, mit einer Landesauswahl erstmals ins Ausland zu reisen, war einmalig. Außerdem war der Trainer kein Geringerer als Carlos Valderrama, jener kultige Lockenkopf der kolumbianischen Mannschaft der Weltmeisterschaften 1990, 1994 und 1998. Díaz wollte unbedingt dabei sein.

Das Turnier in Chile lief ausgezeichnet, Kolumbien wurde Vizemeister und Lucho alsbald bei Barranquilla FC in die erste Mannschaft nominiert. Nach einem Jahr in der zweiten Liga debütiert Lucho mit zwanzigeinhalb wieder bei Junior in der ersten Liga. Und startete voll durch. Nur 14 Monate später, im September 2018, spielt er erstmals in der kolumbianischen Nationalmannschaft – an der Seite seiner Jugendidole Falcao, Cuadrado und Ospina. Von seinen einstigen Vorbildern fehlte bei Luchos Auswahldebüt nur James Rodríguez verletzungsbedingt – zu jener Zeit beim FC Bayern unter Vertrag. Bis heute haben Luis Díaz und James Rodríguez gemeinsam Dutzende Spiele für die „Cafeteros“ gemacht, die Kaffeebauern, wie man die kolumbianische Nationalmannschaft auch nennt. Bei der Copa América im vergangenen Jahr dirigierten die beiden die kolumbianische Offensive, erreichten gar das Endspiel, wo sie nur knapp Weltmeister Argentinien unterlagen. „James hat mir zu meinem Wechsel zu Bayern gratuliert“, berichtet Lucho über eines der ersten Gespräche nach seiner Unterschrift in München. „Es sei der perfekte Verein für mich und ich werde mich in München bestimmt wohlfühlen. Er wünscht mir viele Titel!“
Auf all seinen Profistationen gewann Díaz Meisterschaften und Pokale. Mit Junior de Barranquilla zweimal die Kolumbianische Meisterschaft, mit dem FC Porto, wohin er 2019 den Sprung nach Europa wagte, holte er zweimal das Double. Anfang 2022 unterschrieb er beim FC Liverpool und konnte dort bis 2025 alle nationalen Titel mindestens einmal gewinnen. Empfangen wurde er einst in Anfield vom deutschen Trainer Jürgen Klopp: „Er hat mich umarmt und gesagt, dass ich herzlich willkommen bin und wir über alles sprechen können. Er hat mir das Gefühl vermittelt, dass wir auf einer Wellenlänge liegen. Klopp hat eine tolle Energie, war immer gut drauf, sehr herzlich. Die Deutschen sind gar nicht so kalt, wie manche sagen!“

Lucho selbst hat ebenfalls ein absolut herzliches Auftreten, galt schon in Liverpool als positiver Leader innerhalb der Mannschaft. Bodenständig, sympathisch, familiär. „Ich mag das einfache Leben. Das ist typisch für uns Menschen aus der Karibikregion. Ich trinke gern einen Kaffee auf der Straße. Oder manchmal kann ich einfach zu Hause stundenlang mit meiner Familie rumalbern, lachen oder weinen.“
Lucho hat sich nach ganz oben gekämpft, hat viele Hürden in seiner Kindheit und Jugend genommen und nie sein Ziel aus den Augen verloren. Mit dieser Zielstrebigkeit dribbelt er sich nun in der Bundesliga durch Abwehrreihen und tanzt seine Gegner aus. „Das fällt mir ganz leicht“, sagt er über seine Lieblingsfinten. Als wäre er noch immer auf dem holprigen Bolzplatz in Barrancas. Diese Zeit prägt ihn bis heute: „Dem zehnjährigen Luis würde ich sagen, dass er immer so bescheiden bleiben soll, wie er ist. Und dass er seinen Siegeswillen nie ablegen soll! Es ist wichtig für uns Fußballspieler, dass man immer siegeshungrig bleibt.“
Nur seine Muskelmasse, die ist definitiv heute eine ganz andere. Er ist ein guter Esser, bestätigt er vehement. Sein Lieblingsessen? „In Kolumbien?“, fragt er zurück. „Kokosreis und dazu einen frittierten Roten-Schnapper-Fisch. Und bei mir zu Hause in La Guajira esse ich am liebsten Ziegenbraten und dazu Bällchen aus Maismehl.“ Klingt lecker. Wir sind gespannt, was er zu Brezen und Schweinshaxen sagt. Seine Geschichte in München beginnt jetzt.
Das Porträt entstammt der aktuellen September-Ausgabe des Club-Magazins „51“ – hier erschien es in einer gekürzten Fassung:
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