Michael Ballack? Matthias Sammer? Nein, der erfolgreichste Bundesligaspieler aus Ostdeutschland heißt: Norbert Nachtweih. Dabei hatte er es seinerzeit wesentlich schwerer. Vor 45 Jahren entschloss er sich zur Flucht. Seine Lebensgeschichte liest sich wie ein Spionageroman aus dem Kalten Krieg. Das FC Bayern Mitgliedermagazin „51“ blickt mit dem heute 64-Jährigen zurück.
Eine neue Welt
Die Zeit rennt langsam davon. Vielleicht, meint Norbert Nachtweih rückblickend, war das ganz gut so: Wäre damals mehr Spielraum für Gedanken gewesen, hätte er vielleicht noch im letzten Moment gekniffen. So aber springt er mitten auf dem Großen Basar in Istanbul plötzlich in ein Taxi, das sofort durchstartet. Er lässt sein ganzes Leben hinter sich. Am 22. November 1976, vor 45 Jahren, landet er ein paar Tage später mit nichts außer seinen Kleidern am Leib in München. Der 19-Jährige betritt eine neue Welt.
Nur wenige Stunden vor dem Sprung ins Taxi ist Norbert Nachtweih noch an der Bar des Celik Palace Hotels in Bursa gesessen, hinter ihm ein EM-Qualifikationsspiel mit der U21 der Deutschen Demokratischen Republik gegen die Türkei, vor ihm eine Zukunft, mit der er nicht so ganz warm werden will. Mit seinem Teamkollegen Jürgen Pahl kommt er mit einem Amerikaner ins Reden, das Gespräch dreht sich bald um Träume, Reisen und die Fußball-Bundesliga. Ein Jahr zuvor ist Nachtweih mit der DDR-Juniorenauswahl in der Schweiz gewesen; die Erinnerungen ließen ihn nie los: Die vielen Farben, die Berge, die Seen - „bei uns war alles grau, und wir durften nur mal nach Polen oder die CSSR, dann war unsere Welt zu Ende“, erzählt er heute. „In der Schweiz habe ich das erste Mal gesehen, wie schön es auf der anderen Seite ist. Da war schon eine Sehnsucht da.“
Eine spontane Geschichte
1976 herrscht zwischen West und Ost der Kalte Krieg, im Juni stationiert die Sowjetunion neue Mittelstreckenraketen an der Grenze. Nachtweih ist ein vielversprechendes Fußballtalent, seine Karriere startet bei Motor Sangerhausen, über Traktor Polleben und MK Eisleben kommt er zum Halleschen FC Chemie - und immer wieder fragt er sich, wenn er heimlich Bundesliga im Fernsehen schaut: Könnte er da mithalten? Die kochen doch sicher auch nur mit Wasser! Er zieht noch heute den Hut vor denjenigen, die ihr Leben riskiert haben bei der Flucht über die Mauer: „Das war mutig, das hätte ich nicht gemacht.“ Aber da er mit den DDR-Juniorenteams öfter mal ins Ausland darf, hat er immer im Hinterkopf, sich eventuell mal abzusetzen. In der Türkei ist es trotzdem eine spontane Geschichte, dass all die Träume vom Westen in einer Nacht- und Nebelaktion Gestalt annehmen.
Nachtweih und Pahl überziehen beim Gespräch mit dem Amerikaner den Zapfenstreich um zehn Minuten. Um 23.10 Uhr werden sie von ihrer Delegation zum Aufzug geschickt, „wir wussten, dafür gibt’s eine ordentliche Strafe - in solchen Fragen waren sie pingelig“. Doch ihr neuer Freund flüstert ihm und Pahl seine Zimmernummer zu. Wenig später hocken die drei bei einem Whiskey erneut zusammen. Am nächsten Tag hat das Team zwei Stunden Freizeit auf dem großen Basar in Istanbul. Der Plan ist klar: Da werden sie sich empfehlen.
Kein Zurück mehr
Nachtweih weiß noch genau, wie er in den drei Stunden Busfahrt von Bursa nach Istanbul zusammengekauert in seinem Sitz gesessen ist: Nur nichts anmerken lassen! „Drei Stunden können lang sein - und ich dachte auch immer wieder: Das war nur so ein abenteuerlicher Gedanke, mehr nicht.“ Der Amerikaner, der nach Istanbul vorausgefahren war, staunt selbst mit am meisten, als die beiden tatsächlich vor seinem Hotel aus dem Taxi steigen. Er bringt sie sofort ins US-Konsulat, von dort wird die deutsche Botschaft verständigt. Es gibt kein Zurück mehr.
Verhör bei Zigarettenqualm
In den folgenden Tagen erinnert Nachtweih noch heute vieles an einen Spionageroman: Die beiden Republik-Flüchtlinge werden bei einem deutschen Pfarrer versteckt, Journalisten und die östlichen Geheimdienste suchen sie. Als Stasi und KGB bedrohlich nahe scheinen, werden sie in ein anderes Stadtviertel verlegt, und im Gedächtnis blieb Nachtweih auch ein Verhör im Keller des türkischen Geheimdienstes: „Die Schreibtischlampe im düsteren Raum komplett in unser Gesicht gedreht, unser Gegenüber hatte einen unglaublichen Schnurrbart, und geraucht hat er, dass man vor Qualm so gut wie nichts sehen konnte.“ Am 22. November, fünf Tage nach der Flucht vom Großen Basar, werden er und Pahl separat in Flugzeuge gesetzt: Ab nach München.
„Ein Schritt für die Ewigkeit“
Es war „ein Schritt für die Ewigkeit“, erzählt Nachtweih, „ein Schlussstrich unter unser bisheriges Leben“. Die Eltern, die vier Geschwister - ab sofort unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. „Hätten wir Frauen und Kinder gehabt, hätten wir es nicht gemacht“, sagt er, „aber so wollten wir diese Chance nutzen.“ Beim Verhör des Verfassungsschutzes betonen die beiden, sie seien keine politischen, sondern sportliche Flüchtlinge. Es ist die Wahrheit - und ihr Glück, denn die Stasi lässt sie fortan unbehelligt. Am ersten Abend in Westdeutschland stehen sie am Marienplatz, die Stimmung ist vorweihnachtlich. Tags darauf findet das Hinspiel im Weltpokalfinale statt: FC Bayern gegen Belo Horizonte. Nachtweih und Pahl bekommen von den Justizbeamten Winterkleidung, denn sie haben ja kein Gepäck - und es werden für sie auch Tickets fürs Olympiastadion organisiert. So sitzen sie beim 2:0 auf der Tribüne, sehen die Tore von Gerd Müller und Jupp Kapellmann. Dass er selbst eines Tages mal im Olympiastadion auflaufen werde, hat Nachtweih da kein bisschen im Kopf: „Wir waren kleine Ossis im großen München - wir mussten uns erst einmal sortieren.“
Der Weg führt auch keineswegs direkt in die Bundesliga. Stattdessen mit dem Zug ins Auffanglager in Gießen, wo die beiden zwischen Kriegsflüchtlingen und Folteropfern erleben, wie viel Leid es auf der Welt gibt. Sie haben Glück, schnell spricht sich herum, dass zwei hochbegabte Fußballer nicht wissen, wohin. Eintracht Frankfurt stattet sie mit Profiverträgen aus. Alles ein Traum - allerdings verhängt der Fußballverband der DDR eine einjährige Sperre. Das Duo darf nur trainieren, Pflichtspiele kein Gedanke. Doch die beiden sind jung, sie wollen die neue Welt erkunden - und ziehen nachts um die Häuser.
„Nachtfalter“ auf Höhenflug
Trainer Gyula Lorant wohnt im gleichen Hotel, er verpasst Nachtweih den Spitznamen „Nachtfalter“. Der 64-Jährige schmunzelt heute darüber: „Das war normal, dass wir dieses neue Leben auskosten wollten. In der DDR war nach 20 Uhr keiner mehr auf der Straße, die Bürgersteige wurden hochgeklappt.“ Als Nachtweih am 4. März 1979 endlich sein Debüt in der Bundesliga feiert, startet er durch; er gewinnt mit der Eintracht 1980 den UEFA-Cup (im Halbfinale schalten sie die Bayern aus) und 1981 den DFB-Pokal. Der „Nachtfalter“ auf Höhenflug, denn er kann sich auch auf dem Fußballplatz sehen lassen: satter Schuss, enorme Dynamik, feine Technik, vielseitige Verwendungsmöglichkeiten. Uli Hoeneß sagt noch heute: „Er hat alles für den FC Bayern mitgebracht.“
Der Wechsel zum FC Bayern
Im Sommer 1982 lädt Hoeneß den Allrounder nach München ein, erst ins Feinschmeckerlokal „Käfer“, dann zum Präsidenten Willi O. Hoffmann an den Ammersee. „Wenn du einmal mit Bayern in Kontakt bist, sagst du nicht Nein“, erzählt Nachtweih, der seinerzeit wie viele Eintracht-Spieler finanzielle Probleme hat. Hoeneß hilft, wie so oft. „Uli ist einfach der Beste“, sagt Nachtweih noch heute - er dankte mit Leistungen auf dem Platz: 272 Pflichtspiele, 29 Tore, viermal Meister, zweimal DFB-Pokalsieger und zweimal Supercup-Sieger. Die 1,5 Millionen Mark Ablöse zahlen sich aus. Nur den Europapokal der Landesmeister verspielen sie 1987 im Finale von Wien gegen den FC Porto. Nachtweih erinnert sich lieber an das Bundesliga-Herzschlagfinale 1986: „So was vergisst man nicht.“ Bis heute trifft er den Bremer Unglücksraben Michael Kutzop regelmäßig: „Er sagt mir immer, ich sei der einzige Bayer gewesen, der bei seinem Elfmeter-Fehlschuss nicht gejubelt habe.“ Sportlich fair.
Vergnügungswart beim FCB
Nachtweih ist beim FC Bayern bis zu seinem Abschied 1989 nicht nur auf dem Platz eine verlässliche Größe. Sondern auch, wenn es etwas zu feiern gibt - was oft der Fall ist. „Ich war der Vergnügungswart“, sagt er, mehr als einmal muss er im Büro von Hoeneß antanzen. „Da habe ich oft Senge gekriegt, wie wir in der DDR sagten“, erzählt er, und Hoeneß schüttelt noch immer schmunzelnd den Kopf: „Wenn die Jungs irgendeinen Mist gebaut haben, war Norbert immer dabei. Aber: Er hat auch auf dem Platz immer seinen Mann gestanden.“ Nach sieben erfolgreichen Jahren wechselt Nachtweih mit Johnny Ekström zum AC Cannes nach Frankreich - wo im Internat das blutjunge Talent Zinedine Zidane langsam auf sich aufmerksam macht. „Ein Schlaks, der immer müde war“, erinnert sich Nachtweih, „wir haben ab und zu zusammen Freistöße geübt.“ Kurios, dass er, den es einst durch Zufall in den Westen verschlug, erst in München und später auch in Cannes immer wieder ein Stück Fußballgeschichte miterlebte.
An der französischen Mittelmeerküste sitzt er dann auch letztlich auf der Couch, als Weltgeschichte geschrieben wird und in der alten Heimat die Mauer fällt. „Ich habe über Wochen die Demos verfolgt und immer gehofft, dass keine Schüsse fallen“, erzählt er. Als die Grenzen geöffnet werden, kullern auch bei ihm Tränen. Sofort bucht er Flüge für seine Familie, die er zwischendurch bei Gastspielen unter anderem in Bratislava getroffen hatte, später zahlt er seinen Eltern eine Heizung und ein neues Dach. Nachtweih hatte immer schon ein großes Herz, die Wiedersehensfreude ist enorm. An Weihnachten 1989 reist er das erste Mal seit seiner Flucht zurück in Deutschlands Osten. Viele seiner Gedanken kreisen um die Frage: Was wäre gewesen, wenn alles anders gekommen wäre?
Fußball als Fahrkarte in die Freiheit
Der US-Amerikaner hätte ein V-Mann sein können, eine Falle, die Stasi hätte ihn schnappen können oder ihm sogar noch Schlimmeres antun - und, auch das ist ja denkbar: Man hätte in letzter Sekunde kneifen können. Mit Fußball wäre dann wohl mit Ende 20 Schluss gewesen, denn in der DDR wurde stets knüppelhart und wenig Ressourcen-schonend trainiert. „Der Fußball“, sagt Nachtweih, „war meine Fahrkarte in die Freiheit. Er hat mein Leben verändert und geprägt.“ Seit über 15 Jahren arbeitet er nun bei der Eintracht als Juniorencoach, er möchte seinem Sport etwas zurückzahlen von dem Glück, das ihm ermöglicht wurde. Die schönste Zeit seiner Karriere hatte er in München: „Egal, wo ich hinkomme, frage ich immer: Ihr wisst schon, wer der beste Verein der Welt ist, oder? Und wenn du einmal beim FC Bayern gespielt hast, hast du es geschafft.“ Zumal, wenn du wie Norbert Nachtweih einen langen, harten Weg hinter dir hast. Von einer Nacht- und Nebelaktion am Bosporus nach Bayern. Wie in einem Roman aus alten Zeiten.
Header-Foto: Thomas Pirot.
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