Leon Goretzka, ist ein Typ, der mitdenkt - auf und neben dem Platz. Das Mitgliedermagazin „51“ sprach mit ihm mal ganz sportlich: über sein persönliches Fußballideal, blindes Verständnis im Münchner Maschinenraum - und über das, was das Spiel für ihn bereits als Kind ausgemacht hat.
Das Interview mit Leon Goretzka
Leon, wie ist es eigentlich ganz konkret, im Zentrum dieser Bayern-Mannschaft zu spielen?
„Es ist eine sehr anspruchsvolle Position: Man hat zum Beispiel keine Seitenlinie, die einem auf eine gewisse Weise einen Rahmen und Sicherheit gibt. Man bewegt sich in einem 360-Grad-Radius, in dem sich ständig alles ändert. Man muss die ganze Zeit über Entscheidungen treffen - entscheidet man sich falsch, kann das schwerwiegende Folgen haben. In 90 Minuten hat man eigentlich keine Sekunde, in der man mal kurz durchatmen kann. Wir sprechen hier von einem Level, auf dem man immer zwei, drei Schritte vorausdenken muss: Schon bevor man den Ball bekommt, muss man antizipieren, wann er zu einem kommen könnte und wo der Gegenspieler ist - sonst funktioniert es nicht.“
Wie trainiert man diese 360-Grad-Orientierung?
„(lächelt) Schulterblick links, Schulterblick rechts - wie beim Autofahren. Man muss immer beobachten, was in den 20 Metern um einen herum passiert. So hat man dann letztlich die halbe Sekunde Vorsprung, die man braucht.“
Ist das anstrengend, auch mental?
„Man braucht 90 Minuten maximale Konzentrationsfähigkeit. Aber als Belastung empfinde ich das nicht mehr. Anstrengender ist es, Rückständen hinterherzulaufen, gegen Widerstände anzukämpfen, immer wieder neu anzugreifen, vor allem wenn es mal nicht so läuft. Aber wir sind Bayern! Wir verlieren kein Spiel, wir spielen auch nicht unentschieden - wir gewinnen!“
Du stehst mit Joshua Kimmich im Zentrum des Spiels, ihr beide kennt euch sehr gut. Gibt es so was wie blindes Verständnis wirklich?
„In unserem Fall würde ich tatsächlich sagen, dass wir uns blind verstehen. Das war schon so, als wir in der deutschen U21-Auswahl bei Horst Hrubesch zum ersten Mal zusammengespielt haben. Wir denken in den gleichen Lösungswegen. Dazu verstehen wir uns auch neben dem Platz sehr gut. Das ist eine Beziehung, in der man sich Dinge ehrlich sagen kann, ohne dass der andere beleidigt ist. Das zeichnet Freundschaft aus.“
Wie hat sich euer Spiel unter Julian Nagelsmann verändert?
„Ich denke, es ist erkennbar, dass wir inzwischen andere Räume besetzen und noch variabler spielen. Es braucht aber sicher noch etwas Zeit, bis wir das System perfektioniert haben. Im Optimalfall sind wir bereit, wenn es im Frühjahr in die entscheidende Saisonphase geht. Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich immer wieder, in die Videobesprechungen zu gehen, weil wir da sehr viel Neues lernen. Das zeichnet unsere Mannschaft generell aus: Man spürt hier diesen unbedingten Willen und die Bereitschaft, sich immer weiterzuentwickeln, obwohl viele unserer Spieler schon auf dem allerhöchsten Niveau sind und viele Titel gewonnen haben.“
Wie sieht generell dein Fazit nach der Vorrunde aus?
„Wir haben gezeigt, wozu wir imstande sind. Leider gab es auch ein paar Ausreißer nach unten, zum Beispiel in Gladbach - wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir schon wieder hoch. So etwas darf uns nicht passieren, und es tut bis heute weh. An dem Tag ist es uns nicht gelungen, die Dynamik des gegnerischen Spiels zu brechen. Normalerweise ist das eine unserer großen Stärken.“
Hast du ein Fußballideal?
„Die Dominanz, mit der wir im Sechs-Titel-Jahr gespielt haben, vor allem in den Monaten nach dem ersten Lockdown, war sehr, sehr stark. Du bist ins Spiel gegangen und wusstest, dass du den Gegner überrennst und gewinnst. Wir haben dem Gegner keine Luft zum Atmen gegeben. In diesem Zeitraum haben wir uns unbesiegbar gefühlt. Dennoch gibt es auch im Vergleich dazu noch immer Aspekte des Spiels, die man perfektionieren kann.“
Dem Gegner keine Luft zum Atmen zu lassen - kann man deine Idealvorstellung von Fußball darauf zuspitzen?
„Ich bin jedenfalls ein großer Freund des aggressiven, offensiven Pressings. Nicht nur, weil man so sehr hohe Ballgewinne haben kann und der Weg zum gegnerischen Tor kurz ist, sondern auch, weil du damit etwas ausstrahlst, mit einer gewissen Haltung auf den Platz gehst. Ja, man kann schon sagen: Das ist der Stil, mit dem ich mich am besten identifizieren kann.“
Wie wichtig ist es für dich, dass der FC Bayern eine Identität besitzt, wie er sie seit Louis van Gaal entwickelt hat?
„Wir wollen den Ball haben, wir wollen Ballbesitz-Fußball spielen. Diese Identität finde ich wichtig, sie liegt mir. Der Schlüssel ist das Gegenpressing und das Pressing. Wir arbeiten intensiv an der richtigen Positionierung in Ballbesitz, um den Ball möglichst schnell zurückzugewinnen. Mit Ball haben wir unsere Lösungen, aber man muss auch für den Moment gewappnet sein, in dem man den Ball verliert, damit der Zeitraum ohne Ball sehr kurz bleibt.“
Du hast bei deiner Vertragsunterschrift gesagt, du möchtest Verantwortung beim FC Bayern übernehmen - wie siehst du dich heute in der Hierarchie des Teams?
„Führungsspieler zu sein, bedeutet für mich mehrere Aspekte: ein offenes Ohr haben, vorneweg gehen, sich vor die Mannschaft stellen, Verantwortung übernehmen - möglicherweise auch für Fehler von anderen. Ich suche den Fehler bei mir, weil ich vielleicht hätte verhindern können, dass mein Mitspieler in die entsprechende Situation gekommen ist. Damals wurde ich für meine Aussage ein bisschen belächelt. Ich weiß, dass man so etwas nicht erreicht, nur indem man es ausspricht, erst recht nicht auf einer Pressekonferenz. Ich wollte aber klarstellen, dass ich einen Plan habe - und ich habe mein Ziel erreicht.“
Oliver Kahn sagt, eine Ära mit dem FCB sei mehr wert als ein paar Millionen mehr auf dem Konto - hat er recht?
„Es gibt mit Sicherheit wichtigere Dinge als Geld. Wenn Leute sagen, bei Vertragsverhandlungen gehe es nur darum, den letzten Euro rauszupressen, haben sie oft ein falsches Bild. Geld ist nicht der primäre Grund für eine Verlängerung. Die Identifikation mit dem Club und der Mannschaft besitzt für mich zum Beispiel einen hohen Wert. Diese Erfolge der letzten zwei Jahre haben wir gefeiert, weil hier etwas entstanden ist: Auf diesem Level um Titel zu spielen, und das mit deinen Freunden und nicht nur mit Fußballkollegen - das kannst du mit keinem Geld der Welt bezahlen.“
Was sind deine Ziele 2022?
„Gesund zu bleiben und der maximale sportliche Erfolg.“
Und abseits des Sportlichen?
„Ich möchte mit Jo Kimmich unsere Initiative ‚WeKickCorona‘ weiterentwickeln. Wir haben da ein paar neue Ideen im Kopf, müssen das aber noch konkretisieren. Ich bin sehr motiviert. Es gibt immer Menschen, die Hilfe brauchen.“
Das ausführliche Interview gibt es in der Januar-Ausgabe des FC Bayern Mitgliedermagazins „51“:
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