Wenn die Champions League-Hymne im Camp Nou erklingt, dann sitzen mit Julian Nagelsmann und Xavi Hernández zwei Fußballlehrer einer neuen Generation auf der Trainerbank, beziehungsweise sitzen sie ja nicht, sondern machen selbst Kilometer in der Coaching Zone und treiben und leiten ihre Mannschaft an. Nagelsmann und Hernández haben Respekt voreinander und könnten sicherlich ausgiebig über Dinge wie Tiefenläufe, Raumdruck und Pressing-Auslöser diskutieren.
Bayern und Barcelona gehören zu den Teams in der Champions League, die den meisten Ballbesitz haben und die meisten Pässe spielen. Diese taktische Verwandtschaft könnte auch daran liegen, dass drei große Trainer beide Clubs zu großen Erfolgen geführt und sie nachhaltig geprägt haben. Gemeinsam mit dem Fußballtaktikexperten Christoph Biermann („Die Fußball-Matrix“) tauchen wir ein in die Fußballgeschichte und suchen nach historisch-taktischen Verbindungen. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Bayern-Barcelona-DNA?
1. Der Mann mit dem Sieger-Gen: Udo Lattek
FC Bayern: 1970–1975, 1983–1987
Barcelona: 1981–1983
Niemand Geringeres als der Kaiser höchstpersönlich hatte ihn überredet: Auf Drängen von Franz Beckenbauer startete Udo Lattek, damals 35 Jahre alt, im März 1970 ohne jede Erfahrung als Vereinstrainer beim FC Bayern München. Sein erster Coup erwies sich als sein größter: Er lockte die damaligen Teenager Uli Hoeneß und Paul Breitner zum FC Bayern – obwohl beide eigentlich mit zum TSV 1860 München wollten. Was für ein Glück, dass Lattek sie aus seiner Zeit als U17-Nationalcoach kannte.
„Er war Pragmatiker, ihm ging es um Ergebnisse“, sagt Christoph Biermann über Lattek. Und die stimmten: Drei Meisterschaften gewannen die Bayern, dazu kam der erste Europapokal der Landesmeister. Lattek selbst soll einmal gesagt haben: „Ich gewinne lieber 1:0 als 4:3.“
Im Jahr 1981 verstarb Latteks Sohn Dirk an einer Krebserkrankung. Das Ehepaar Lattek entschloss sich, Deutschland zu verlassen. Sie brauchten Abstand. Udo Lattek suchte eine neue Herausforderung. Und fand sie 1981 beim FC Barcelona mit seinem „blonden Engel“ Bernd Schuster. Sofort verstanden sie sich, die Katalanen und Lattek, was auch daran lag, dass der Deutsche 45.000 Fans im Camp Nou auf Spanisch begrüßte.
Zwar gewann Lattek direkt in seiner ersten Saison gleich den Europapokal der Pokalsieger. Aber zur großen Liebe fehlte dann doch etwas: das ganz große Spektakel. Noch immer waren die Fans nicht darüber hinweg, dass Johan Cruyff sie verlassen hatte. Und weil Lattek tat, was er immer tat, nämlich zuverlässig, aber ohne Feuerwerk siegen, versprach Barcelonas Präsident den Fans, was sie wollten. Im Sommer 1982 kam Diego Maradona, das größte Talent Südamerikas, für eine Weltrekordablöse – und traf im Camp Nou auf den pragmatischen Ostpreußen Udo Lattek.
Blonder Engel und die Hand Gottes
Maradona sah Fußball als Kunst, Lattek als erdigen Kampfsport. Was daraus folgte, erzählte Lattek einst dem „Kicker“: „Mein einziges Problem war Maradona, der war hartes Arbeiten nicht gewohnt. Als er zu spät zu einer Abfahrt kam, hatte ich zwei Möglichkeiten: auf ihn warten und vor den Spielern das Gesicht verlieren oder abfahren.“ Lattek entschied sich für Härte. Er ließ den Bus abfahren. Maradona beschwerte sich daraufhin beim Präsidenten. Zwei Wochen später war Lattek: arbeitslos.
Im Jahr 1983 kehrte Lattek zurück nach München. Es war Manager Hoeneß, der Lattek holte, also jener Hoeneß, den einst Lattek zum FC Bayern geholt hatte. Mit drei weiteren Meisterschaften und zwei Pokalsiegen war Latteks zweite Amtszeit erfolgreich. Lattek tat wieder einmal, was er am besten konnte: Er gewann. Er hatte das Sieger-Gen.
2. Das Feier- und Taktik-Biest: Louis van Gaal
Barcelona: 1997–2000, 2002–2003
FC Bayern: 2009–2011
Im Sommer 2009 kam ein Trainer nach München, wie sie ihn dort noch nie gesehen hatten: ein Coach, der sich bei seiner ersten Pressekonferenz so vorstellte: „Mia san mia, wir sind wir – und ich bin ich.“ Es kam: Louis van Gaal, der, wie Christoph Biermann sagt, „erste Konzepttrainer beim FC Bayern, stark geprägt von der Fußballschule Johan Cruyffs in Amsterdam und Barcelona“.
Was heute selbstverständlich ist, weil jeder Kreisliga-Coach eine eigene „Philosophie“ verfolgt, war damals die Ausnahme. Selbst die großen Vereine, sagt Biermann, hätten über Jahrzehnte „Heldenfußball“ gespielt. Bedeutet: Die Vereinsführung kaufte Stars, der Trainer hatte vor allem die Aufgabe eines Dompteurs. Und nun war in München mit Louis van Gaal einer, der nicht nur erfolgreichen Fußball spielen wollte, sondern auch einen, der einer zentralen Idee folgte und Spaß machte: radikaler Offensivfußball statt solider Ergebnis- und Titelsicherung. Van Gaal stellte strikt nur jene Spieler auf, die er für gut hielt – ungeachtet ihres Alters oder Status. Louis van Gaal ließ einen blutjungen Thomas Müller spielen, obwohl er Luca Toni hatte. Er stellte Teenager wie Holger Badstuber und David Alaba in die Startelf, weil er sich sicher war: Aus denen wird was ganz Großes werden.
Super-Talente statt Superstars
Dass es sich lohnt, die Jugend zu fördern, hatte er in Amsterdam gelernt: Als Ajax-Coach Mitte der 90er Jahre entdeckte Louis van Gaal unter anderem Patrick Kluivert, Clarence Seedorf und Edgar Davids. Gemeinsam gewannen sie 1995 die Champions League. Dieser Erfolg qualifizierte ihn anschließend für den Trainer-Job beim FC Barcelona, den er 1997 antrat. Im Camp Nou legte er sich erst mal mit dem späteren Weltfußballer Rivaldo an. Statt auf alte Superstars zu setzen, die schon da waren, oder sich von Managern und Präsidenten neue kaufen zu lassen, formte er sie lieber selbst. Louis van Gaal holte nicht nur Torwart Víctor Valdés und den späteren Abwehrchef Carlos Puyol aus „La Masia“, der Jugendakademie des FC Barcelona, zu den Profis, sondern auch die kongenialen Mittelfeldstrategen Xavi und Iniesta. Van Gaal gewann zwei Meisterschaften in Spanien. Immerhin. Der ganz große Titel blieb ihm genauso verwehrt wie die Liebe der Fans. Erst Jahre später, als der FC Barcelona den gesamten europäischen Fußball dominierte und Louis van Gaal fast vergessen den kleinen AZ Alkmaar trainierte, sollte deutlich werden, welche unglaubliche Vorarbeit der Niederländer geleistet hatte. Ein wenig würde sich diese Geschichte in München wiederholen.
Louis van Gaal führte den FCB schon in seiner ersten Saison ins Champions-League-Finale gegen Inter Mailand – und neue Trainingsmethoden an der Säbener Straße ein. Es gab jetzt Computertechnik, Kameras, digitale Vermessungen und Analyse-Tools. Und auch wenn es Jupp Heynckes sein sollte, der im Jahr 2013 das historische Triple erreichte – ermöglicht hat es auch: Louis van Gaal. Nicht nur durch die Entdeckung heutiger Legenden wie Müller oder Alaba. Louis van Gaal schulte Bastian Schweinsteiger vom Flügel- zum Führungsspieler um. Er erschuf „Robbery“.
Die „Achse Ajax–Barcelona“, wie Christoph Biermann sie nennt und die er in einem wie Louis van Gaal verkörpert sieht – sie reichte nun nach München. Dort wurde so schön Fußball gespielt wie vielleicht nie zuvor: „Die Verpflichtung dieses Konzepttrainers“, sagt Biermann, „ist der Wendepunkt in der jüngeren Geschichte des FC Bayern.“
3. Der Fußballmönch: Pep Guardiola
Barcelona: 2008–2012
FC Bayern: 2013–2016
Die Nachricht hätte kaum größer sein können: Aus seinem Sabbatical in New York, wo er seine Tage damit verbrachte, Regisseur Woody Allen oder Schachgroßmeister Garry Kasparov zu treffen, verkündete Pep Guardiola im Januar 2013, er werde als nächsten Verein den FC Bayern trainieren. Nicht weniger als der aufregendste Trainer der Welt, der zuvor mit seinem Tiki-Taka-Barcelona alles gewonnen hatte, was es zu gewinnen gibt, würde nach München kommen. „Bayern war immer ein großer Verein gewesen“, sagt Christoph Biermann, „nun war er ein Weltclub.“ Mit Guardiola – charmant, gut aussehend, weltbürgerlich – kam der Glamour an die Isar.
Wie einst Lattek in Barcelona begrüßte Pep Guardiola die Journalisten bei seiner Auftakt-Pressekonferenz in der Landessprache: „Guten Tag und grüß Gott, meine Damen und Herren! Bitte verzeihen Sie mir mein Deutsch.“
Von seinem bisherigen Arbeitgeber brachte Guardiola seinen Liebling mit: Thiago Alcántara. Und sonst? Christoph Biermann sieht die entscheidende taktische Idee, die Guardiola importierte, an anderer Stelle: „Zentral beim FC Barcelona war das hohe Verteidigen. Plötzlich spielte Bayern genauso.“
In München fand Guardiola sogar etwas, was ihm selbst bei seinem so gut wie unschlagbaren Barcelona gefehlt hatte: einen echten Mittelstürmer. Das, was Zlatan Ibrahimović in Barcelona für ihn werden sollte und nie wurde – diesen Stürmertyp fand Guardiola in Robert Lewandowski.
Sieger- und Taktik-Gene
Guardiola hat den FC Bayern und die Stadt München geprägt wie kaum ein Trainer zuvor: mit Taktik und Glamour. Nur ein Jahr nach dem Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaft in Rio und zwei Jahre nach dem deutsch-deutschen Champions League-Finale in London war Deutschland – und München – ganz klar das Herz der Fußballwelt und spielte berauschenden Fußball. „Ich habe mich ein bisschen verliebt“, sagte selbst der harte Atlético-Trainer Diego Simeone, nachdem sein Team gnadenlos auseinandergenommen worden war.
„Es hat eine ganz eigene Tragik, dass Guardiola in München nicht die Champions League gewinnen konnte“, meint Christoph Biermann (München schied 2015 unfassbar ungerecht gegen Simeones Team aus). Aber Trainer hinterlassen im besten Fall mehr als einen gefüllten Trophäenschrank, sie prägen einen Club über ihre Amtszeit hinaus. Den Spielmacher auf der Außenbahn, den Sweeper Keeper, den falschfüßigen Flügelstürmer gab und gibt es in München immer noch. Zum Sieger-Gen war das Taktik-Gen dazugekommen.
Der Taktikexperte Christoph Biermann ("11 Freunde“) hat viele Fußballbücher geschrieben. Zuletzt erschien „Um jeden Preis – Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute“ (KiWi, 256 S., 18 Euro).
Der FC Barcelona im Formcheck:
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