
Für große, wirkungsvolle Grätschen ist vor allem eins wichtig: das Timing. Nur der Bruchteil einer Sekunde trennt die spektakuläre Rettungsaktion von der rotwürdigen Notbremse, die wuchtige Ansage vom rüden Foul. Doch eine mitreißende Grätsche muss auch in anderer Hinsicht perfekt abgestimmt sein: Sie muss zum richtigen Zeitpunkt kommen. Dann bricht sie Angriffswellen, markiert Wendepunkte, sendet Botschaften. An Gegner, Mitspieler, Fans. Für die Psychologie eines Spiels kann ein solches Tackling ungemein bedeutsam sein. Und kaum ein Spieler in der Geschichte des FC Bayern wusste das besser als Stefan Effenberg.
Einsatz mit Signalwirkung
Mailand, Giuseppe-Meazza-Stadion, 23. Mai 2001. Es läuft die Anfangsphase des Champions League-Endspiels der Bayern gegen den FC Valencia. Und alles scheint sich gegen Effe und sein Team verschworen zu haben. Schon in der dritten Minute sind sie durch einen umstrittenen Elfmeter in Rückstand geraten. Vier Minuten später verschießt Mehmet Scholl einen Strafstoß. Geht das schon wieder los? Sie werden nach dem tragischen Finale von 1999 doch nicht wieder ein Endspiel verlieren?

Die Bayern rennen an, aber vieles wirkt überstürzt, hektisch, ungenau. Und Valencia schaltet immer wieder schnell um. So auch in der zwölften Minute. Die Spanier erobern am eigenen Strafraum den Ball, und Gaizka Mendieta, Valencias Kapitän und Schütze des Führungstors, läuft nun in Richtung Bayern-Hälfte. Kurz vor der Mittellinie will er abspielen. Geht der Pass durch, stürmen vier Valencianer auf drei Bayern-Verteidiger zu. Entschlossen und präzise grätscht Effenberg Valencias Star-Spieler den Ball vom Fuß. Es ist kein irrsinnig spektakuläres Tackling. Aber eines, das enorm viel ausstrahlt: Autorität, Siegeswille und ein sehr robustes Vertrauen in die eigene Stärke.
Wer sich das Spiel noch einmal ansieht, merkt: In den Minuten nach Effenbergs Grätsche wird das zuvor noch aufgewühlt wirkende Bayern-Team immer selbstsicherer. Die Münchner beginnen, das Spiel zu dominieren und zu kontrollieren. Das Schicksal dreht sich. Rund zweieinhalb Stunden später hält Oliver Kahn den Elfmeter von Mauricio Pellegrino – und der FC Bayern krönt sich zum ersten Mal seit 25 Jahren zu Europas bester Clubmannschaft.
Wie sehr kann eine Grätsche ein Spiel verändern? „Entscheidend wird so etwas nie sein“, hat Effenberg selbst einmal gesagt. „Aber es ist ein wichtiges Teil im Puzzle.“
Das Tackling als Multifunktionsinstrument
Stefan Effenberg war ohne Frage einer der besten Mittelfeldspieler seiner Zeit, 2001 wurde er zu Europas Fußballer des Jahres gewählt, Ottmar Hitzfeld hatte ihn zuvor schon als „besten Mittelfeldspieler Europas“ bezeichnet. Effenbergs fußballerischer Werkzeugkasten war prall gefüllt mit Qualitäts-Tools: Mit seinem fantastischen Passspiel hebelte er gegnerische Abwehrreihen aus, mit seiner großen Laufbereitschaft kittete er Risse in der eigenen Defensive, mit feiner Technik und herausragender Übersicht baute er das Spiel klug auf. Gerühmt wurde der 1,88 Meter große Mittelfeld-Dominator aber vor allem für seine Führungsqualitäten. Er war Hitzfelds „Aggressive Leader“. Und zu seinem Markenzeichen wurde sein geradezu virtuoser Einsatz der Grätsche als Multifunktionsinstrument.

Als Mittel der rein körperlichen Zweikampfführung beherrschte er sie ohnehin perfekt. Er antizipierte, was der Gegenspieler vorhatte, tickte ihm die Kugel vom Fuß oder blockte sie lehrbuchmäßig: nämlich so, dass der Gegner über ihn hinwegspringen musste und er mit dem gewonnenen Ball direkt weiterspielen konnte. Hin und wieder räumte er den Gegenspieler aber gleich mit ab. Meist mit exakt kalkulierter Intensität. Denn die Grätsche diente bei Effe eben oft auch einem psychologischen Zweck.
Berühmt war seine Begrüßungsgrätsche, gerne angewendet an einem gegnerischen Führungsspieler. Das Kalkül dahinter: „Gerade zu Beginn eines Spiels kann man einen echten Wow-Effekt erzeugen“, so hat es Effenberg mal erklärt. „Die Mitspieler merken, dass die Marschroute klar ist: Hier brennt heute nichts an. Auch das Publikum ist sofort im Spiel, der Funke springt über. Und zu guter Letzt kann man natürlich auch den Gegner einschüchtern, wenn dieser es zulässt.“

Aber auch später im Spiel setzte Effenberg gern zu Tacklings mit Botschaft an. Dem anderen großen Mittelfeld-Haudegen seiner Zeit beispielsweise, Roy Keane von Manchester United, grätschte er gegen Mitte der ersten Halbzeit des Champions League-Viertelfinal-Rückspiels 2001 den Ball kurz vor der Eckfahne so kompromisslos vom Fuß, dass sich damit klar die Message verband: Wir schenken euch bis zum Schluss keinen Zentimeter.
Weil Effenberg wusste, dass bestimmte Tacklings auf Signalwirkung ausgelegt waren, wusste er auch, wie man am besten reagiert, wenn man selbst abgeräumt wird. Entweder er stand auf, als wäre nichts gewesen. Oder er machte seinem Gegenspieler, gern Stirn an Stirn oder seinen berühmten Droh-Zeigefinger hebend, eines klar: Das machst du nicht noch mal! Meistens behielt er recht.
Mit Durchsetzungsvermögen zu Titeln
Es ist nicht überliefert, mit welcher Attitüde Stefan Effenberg einst als Kind auf den Straßen von Hamburg-Niendorf zu Werke ging oder auf den Plätzen seines Jugendclubs Victoria Hamburg. Aber eines ist klar: In keinem seiner 560 Pflichtspiele als Profi ging Effenberg auf den Fußballplatz, um sich dort oder auf den Rängen Freunde zu machen. Er war nie ein rücksichtsloser Spieler, kein Brutalo. Aber eine außergewöhnliche Portion Siegeswille und Durchsetzungsvermögen gehörte zu seinem Charakter – und eine gewisse Härte und Aggressivität zu seinem Spiel.
114 Gelbe Karten (und drei Rote) sah er in seiner Karriere. Bundesliga-Rekord. Auch den Eintrag als erster Spieler, der die 1991 eingeführte Gelb-Rote Karte erhielt, sicherte er sich. Da spielte er bereits beim FC Bayern, zu dem er 1990 als 22-Jähriger von Borussia Mönchengladbach gewechselt war. Augenthaler, Reuter, Aumann – so hießen anfangs seine Teamkollegen in München. Und Effenberg zeigte früh, dass er gewillt war, sich nicht nur auf dem Platz, sondern auch in einer Kabine voller gestandener Weltmeister durchzusetzen: In seiner Autobiografie schreibt er, dass er dem damaligen Bayern-Libero und Weltmeister Klaus Augenthaler bei einer internen Aussprache klar ins Gesicht gesagt habe, dass er Stefan Reuter für den besseren Libero hielt. Zweikämpfen ging Effe eben selten aus dem Weg.

Zum unbestrittenen Führungsspieler in München wurde er aber erst, als er nach Stationen in Florenz und Mönchengladbach im Sommer 1998 ein zweites Mal zum FC Bayern wechselte. Und anders als seine erste Bayern-Phase war diese auch von Erfolg gekrönt. Lediglich den DFB-Pokal 1995 hatte er gewonnen, als er 1998 nach München kam. Als er den FC Bayern 2002 verließ, war er dreifacher deutscher Meister und Champions League-Sieger.
Die Verbalgrätsche
Eine Mannschaft voller großer Spieler, die von Ottmar Hitzfeld brillant geführt wurde, machte er noch besser. Mit seinen fußballerischen Qualitäten, mit seiner Mentalität – „allein seine Anwesenheit ist für uns ungeheuer wichtig“, sagte Oliver Kahn einmal – und mit seiner Fähigkeit, sich und seine Mitspieler in entscheidenden Phasen zu Höchstleistungen zu pushen. Mit Taten wie mit Worten.
In den Tagen nach Beckenbauers berühmter „Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft“-Rede von Lyon, die der Kaiser nach einem 0:3 in der Champions League-Gruppenphase 2001 hielt, trat auch Effe vor die Mannschaft. Den Trainer bat er, so erzählt er es in seiner Biografie, hinauszugehen. Beckenbauers Aussagen seien heftig gewesen, aber man kenne ihn ja, „das muss man nicht so eng sehen“, erklärte er selbstbewusst und nahm die Wucht aus der kaiserlichen Attacke. Man sei ein „bärenstarkes" Team. „Wir reißen uns jetzt den Arsch auf und zeigen dem Franz, was wir draufhaben.“ Es war im Grunde die verbale Variante der Effenberg’schen Motivationsgrätsche.
In Teil 1 der Unmatched-Serie haben wir Jamal Musiala unter die Lupe genommen:
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