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Collage: Ein Spiel des FC Bayern in der ausverkauften Allianz Arena, darin ein Ausschnitt aus der Corona-Zeit mit leeren Rängen
© Imago

Rückblick auf Corona-Zeit: Als die Welt Kopf stand

Vor fünf Jahren veränderte der Corona-Lockdown den Fußball für immer: 32 Spiele ohne Zuschauer bestritt der FC Bayern in der Allianz Arena und feierte einige der größten Triumphe seiner Geschichte. Was wirklich bleibt, ist aber eine Erkenntnis: wie wichtig die Fans für das schöne Spiel sind. Der Journalist Patrick Bauer erinnert sich im FC Bayern-Mitgliedermagazin „51“ zurück.

Am 23. Mai 2020 gewann der FC Bayern zu Hause in der Allianz Arena mit 5:2 gegen Eintracht Frankfurt – und ich kann mich nicht daran erinnern. Natürlich habe ich das Spiel gesehen, ich habe jedes Bayern-Spiel gesehen seit der zweiten Halbzeit im UEFA-Cup-Rückspiel bei Norwich City 1993, vor der mich meine Eltern ins Bett schickten – was damals (ich bin da abergläubisch) sicher der Grund für das Ausscheiden war.

Kingsley Coman jubelt, als der Ball im Frankfurter Tor einschlägt, während eines Geisterspiels in der Allianz Arena des FC Bayern.
Wenn der Ball im Netz zappelt, ertönt in der Arena ein kollektiver Aufschrei. Im Mai 2020 war es sehr still. | © FC Bayern

Aus den vielen hundert Spielen, die ich seither bejubelt und durchlitten habe, sind mir unendlich viele Szenen im Gedächtnis geblieben, vor allem solche, die ich live im Stadion gesehen habe. Rückblickend folgenlose Momente wie eine Gelb-Rote Karte für Mark van Bommel gegen Bochum 2008, in Minute 27 war das. Und genauso viele entscheidende: Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie Ribéry in seinem letzten Heimspiel per Lupfer traf und Robben, der auch seine finale Partie spielte, eine Flanke über die Linie drückte und beide vor unseren Block neben der Südkurve stürmten, als wollten sie von meinem Sohn und mir persönlich Abschied nehmen. Ich bilde mir bis heute ein, dass sie direkt zu uns hochschauten. Das war auch gegen Frankfurt.  Aber diese fünf Tore gegen die Eintracht im Jahr 2020 habe ich nicht vor Augen. Ich sah sie vom Sofa aus, aber nichts blieb in meinem Kopf. Und ich weiß auch, warum: Damals, am 27. Spieltag der Saison 2019/2020, fand das erste Heimspiel ohne Zuschauer statt. Das erste von zu vielen.

Ein Fest zum Abschied

Woran ich mich sehr gut erinnere: an das letzte Heimspiel vor der Corona-Pause, am 8. März 2020 gegen Augsburg. Drei Tage später sollte die Weltgesundheitsorganisation WHO den Covid-19-Ausbruch zur Pandemie erklären. Der Himmel strahlte frühlingshaft blau, wir feierten 120 Jahre FCB, die Choreo färbte alles rot und weiß, und als Leon Goretzka in der Nachspielzeit nach Doppelpass mit Serge Gnabry zum 2:0 traf, war der Jubel noch lauter und länger als sonst – weil wir alle ahnten, was folgen würde. Erst weit nach Abpfiff verabschiedete ich mich von meinen Dauerkartensitznachbarn; Menschen, die ich nur hier und nur alle zwei Wochen sehe, aber mit denen mich über die Jahre viele gemeinsam errungene Siege und schlimme Dramen auf ewig verbunden haben. Wir alle hatten Tränen in den Augen: Passt auf euch auf! An diesem stolzen Tag, als an die Anfänge dieses großen Vereins erinnert wurde, ging etwas zu Ende. Der Fußball, wie wir ihn kannten.

Unser Stadion ist auch leer ein magischer Ort, aber ein anderer, ein unvollendeter. Es braucht die Masse.

Patrick Bauer

32 Heimspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit absolvierte der FC Bayern wettbewerbsübergreifend, bis am 9. April 2022, ziemlich genau zwei Jahre später, erneut gegen den FC Augsburg, die Arena wieder ausverkauft war. Rechnet man die Auswärtsspiele und die Partien in neutralen Stadien dazu, trat das Team 64-mal vor komplett leeren Rängen an, dazu kamen einige Spiele mit reduzierter Zuschauerkapazität. Nur sechs dieser 64 Spiele haben die Bayern verloren, nur zwei davon zu Hause. In den 32 Heimspielen in der leeren Arena hatten wir eine Tordifferenz von 112:37. Eine unglaubliche Leistung unseres Teams, denn: Eine englische Studie hat ergeben, dass der Heimvorteil durch sogenannte „Geisterspiele“ fast um die Hälfte verringert wurde. Mit Zuschauern holen Heimteams im Durchschnitt 0,39 Punkte mehr als auswärts. Ohne Zuschauer sind es nur 0,22 Punkte mehr. In vollen Stadien schießen Heimteams pro Spiel im Schnitt 0,29 Tore mehr als die Gastmannschaft. In leeren Stadien sind es nur 0,15 Tore mehr. Unsere Arena aber blieb auch während des Lockdowns eine Festung.

Goethe hat mal wieder recht

Natürlich: Es tat gut, dass weiter Fußball gespielt wurde. Es tat gut, mit dem FC Bayern zu jubeln und zu leiden. Und zu wissen, dass es Millionen Menschen auf der ganzen Welt genauso geht. Und natürlich: Die Pandemie war sportlich betrachtet eine der erfolgreichsten Phasen des Vereins, mit dem historischen Gewinn des „Sixpacks“. Und doch war jedes Spiel ohne Zuschauer für mich ein Tiefschlag. Und damit war ich nicht allein.

Ein Spiel des FC Bayern in der ausverkauften Allianz Arena, daneben ein Ausschnitt aus der Corona-Zeit mit leeren Rängen
Einer der wenigen Vorteile der Spiele ohne Publikum: Man konnte die Ansagen von „Radio Müller“ gut verstehen. | © Getty

Nach dem ersten Match vor leeren Rängen, auswärts bei Union Berlin, fühlte sich Thomas Müller an die „alten Herren um 19 Uhr“ erinnert. Joshua Kimmich an die „U17“. Beide meinten dasselbe: die Abwesenheit der Roten. Anders als Torverhältnis und Punkteschnitt lässt sich Atmosphäre und ihr Einfluss auf den Sport schwer messen. Aber ich empfehle jedem, die Allianz Arena mal abseits eines Spieltags zu erkunden. Unser Stadion ist auch leer ein magischer Ort. Aber ein anderer, unvollendeter. Schon Goethe schrieb über die Arena von Verona, ein Stadion habe die Aufgabe „dem Volk mit sich selbst zu imponieren“ und sei „etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen“. Schöner kann man es nicht sagen, kommt ja auch von Goethe.

Wenn ich im Stadion bin, gibt es immer wieder aufs Neue diesen Moment, in dem aus dem Nichts etwas Großes – oder: alles – wird. Wenn die Teams aus dem Tunnel hinaufsteigen auf den Rasen, wenn der Funke, die Spannung, die Freude, die Nervosität von den Rängen überspringt aufs Feld, wenn die Gesänge von Süd nach Nord und von Haupttribüne zu Gegengerade schwappen, fühlt es sich für mich an, als würde sich alles fügen. Von diesem Gefühl, von diesem Zauber, bekomme ich nicht genug. Und den Spielen ohne Zuschauer, so erfolgreich und spektakulär sie waren, fehlte stets der Zauber. Wir bekamen reduzierten, geradezu nackten Fußball zu sehen. Das war nicht uninteressant, anfangs war das sogar richtig spannend: Man verstand das Spiel anders, die taktischen Feinheiten, das Handwerkliche, jeden einzelnen Zweikampf. Die Kommandos von Thomas „Radio“ Müller waren so zu hören, als stünde man selbst auf dem Platz („Super Ball, King!“). Es ging ausschließlich: um Fußball.

Collage: Joshua Kimmich (FC Bayern) bei einem Eckball in der ausverkauften Allianz Arena, darin ein Ausschnitt aus der Corona-Zeit mit leeren Rängen
Joshua Kimmich schießt in ausverkauften und leeren Stadien scharfe Ecken. Das „Ooooh“ der Fans und die Atmosphäre fehlten ihm sehr. | © FC Bayern

Aber, mal ehrlich, es geht bei meiner Liebe zum FC Bayern nicht nur um Fußball. Wenn ich vom Spiel der Bayern rede, sage ich nicht ohne Grund „wir“, obwohl meine Frau mich (und ich glaube meinen Bauchansatz) dann immer so komisch anguckt. Natürlich ist mir bewusst, dass ich schon nach einem Sprint zwischen Anstoßpunkt und Anstoßkreis außer Atem wäre. Aber meine nicht weniger anstrengende Aufgabe ist es, dort oben in Block 216 meine geheimen Rituale zur Abwehr der Fußballflüche einzuhalten und mir dann die Seele aus dem Leib zu schreien. In diesen 90 Minuten vor Ort schaue ich kein einziges Mal aufs Handy, ich gehe auf in der Masse, nichts lenkt mich ab. Vielleicht erinnere ich mich deswegen an keine Tore aus den Spielen ohne Zuschauer? Doch, an eines erinnere ich mich, klar: An Kingsley Comans Kopfball gegen Paris im Champions League-Finale von Lissabon, ein Treffer für die Ewigkeit, in die Stille hinein. Aber er geht mir nicht so nahe, wie Arjen Robbens Siegtor von Wembley im Finale gegen Dortmund 2013 – obwohl ich in London auch nicht vor Ort war. Und warum? Weil dort andere Fans stellvertretend für mich mitjubelten, so wie ich jedes Heimspiel für andere mitjuble.

Ich habe mir die Tore zum 5:2 gegen Frankfurt im ersten Heimspiel ohne Zuschauer jetzt noch mal angeschaut. Da waren richtig schöne Dinger dabei. Thomas Müller war der Mann des Spiels. Das 1:0 hat er vorbereitet, das 2:0 selbst gemacht. Als ihm die Mitspieler gratulieren, sieht man im Hintergrund unseren Block – den, in dem mein Sohn und ich sitzen. Und jetzt erinnere ich mich wieder, wie ich dieses Spiel zu Hause mit meinem Sohn geschaut habe. Und wie ich dachte: Irgendwann sitzen wir da wieder, egal, was passiert. Da ist unser Platz. Und dieses Gefühl war so viel wichtiger als Tore.

Patrick Bauer gewann als Journalist und Roman-Autor viele Preise. Er arbeitet für die „Süddeutsche Zeitung“ und ist lebenslanger Bayern-Fan und Vater eines sehr talentierten Torhüters.

Der Text erschien in der aktuellen Ausgabe des „51“:

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