
Titel gewinnt man in der Verteidigung, heißt es im Sport. Aber keine Position im Fußball hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert stärker verändert als die des Innenverteidigers. Thomas Linke, der vor 24 Jahren die Champions League gewann, und unser Abwehrduo Dayot Upamecano und Josip Stanišić, die in seine Fußstapfen treten wollen, erklären die Evolution im FC Bayern-Mitgliedermagazin „51“.
Wenn Thomas Linke sich heute ein Spiel der Bayern anschaut, steigt in ihm manchmal die Frage auf: „Könnte ich das spielen?“ Gemeint ist nicht, ob der 55-Jährige mit Profis mithalten kann, die 30 Jahre jünger sind als er. Im Raum steht die Überlegung, wie es wohl wäre, wenn Linke, fünffacher Deutscher Meister und Gewinner der Champions League, durch die Zeit reisen könnte: Würden die Fähigkeiten des jungen Thomas Linke als Innenverteidiger ausreichen, um auch im Jahr 2025 auf Top-Niveau zu spielen? Auf dieses Gedankenspiel gibt es keine verlässliche Antwort. „Aber es wäre vermutlich verdammt schwierig“, gibt Linke zu – denn das Spiel hat sich radikal verändert.
Vom Abwehrschreck zum Ballkünstler

Es geht weniger um Top-Speed, Sprungkraft oder Muskelmasse. „Wichtig ist auch, dass wir in Ballbesitz Ruhe ausstrahlen“, sagt Dayot Upamecano, der in dem Jahr geboren wurde, in dem Linke nach München wechselte. „Gerade in Phasen, in denen die Mannschaft müde ist, müssen wir den Ball in unseren Reihen halten, damit wir wieder Kraft sammeln.“ Das war noch keine Anforderung, als in Deutschland noch der Spruch galt: „Kein Mensch, kein Tier, die Nummer vier.“ Die Vier war die übliche Rückennummer der Vorstopper – so hießen Innenverteidiger früher.
In England war Nobby Stiles, Sohn eines Totengräbers, der berühmteste aller Eisenfüße. Schon zu Spielerzeiten trug er einen Zahnersatz, den er während der 90 Minuten herausnahm, was ihn noch einschüchternder wirken ließ. Als gnadenloser Manndecker trug er entscheidend zum Titelgewinn der Engländer bei der WM 1966 bei. Der italienische Verteidiger Claudio Gentile – der Nachname bedeutet ironischerweise „freundlich“ und „liebenswürdig“ – hatte den Leitsatz: „Fußball ist kein Sport für Ballerinas.“
Bei der WM 1982 foulte er seinen Gegenspieler Diego Maradona insgesamt 23-mal, ohne vom Platz zu fliegen. In Spanien gab es den Basken Andoni Goikoetxea, bekannt als „Schlächter von Bilbao“, der sowohl Bernd Schuster als auch Diego Maradona ins Krankenhaus trat. Für das Foul am Argentinier sah er vom Schiedsrichter nur Gelb, wurde aber nachträglich für 18 Spiele gesperrt. Und in Deutschland gab es die berühmte Mannheimer Schule, die legendär harte Vorstopper wie Dieter Schlindwein, Karlheinz Förster, Christian Wörns und Jürgen Kohler hervorbrachte.

Die neue Komplexität des Verteidigens
Eines hat sich seit der Ära der Raubeine nicht geändert. „Ich hasse es, Gegentore zu kassieren“, sagt Dayot Upamecano. Doch die Mittel in diesem Kampf haben sich im Laufe der Jahre verändert. Ab 1998 wurden die Künstler auf dem Rasen besser geschützt – das Foul von hinten, bis dahin eine beliebte Spezialität der harten Männer, wurde nun zwingend mit einem Platzverweis geahndet. Auch deshalb mussten Verteidiger bald mehr können als grätschen. Das kam dem jungen Thomas Linke, der sich bei Erfurt und Schalke 04 etablierte, zugute. Er war ein geschickter Verteidiger, der selten verwarnt wurde. „Es war für uns einfacher, Fußball zu spielen“, sagt er trotzdem. Einerseits hätten Spieler damals unter weniger physischem Stress gestanden. Statt elf Kilometer in 90 Minuten liefen sie „bestenfalls acht“. Außerdem waren sie Manndecker, die vor allem ihren gegnerischen Stürmer zu bewachen hatten.
Aber das änderte sich schon während seiner Karriere. „Es gab in den letzten 30 Jahren eine Entwicklung hin zur Raumdeckung“, sagt Linke. Plötzlich mussten Verteidiger nicht mehr nur ihre Gegenspieler verfolgen, sondern sich daran orientieren, wo gerade der Ball war. Zugleich rückten die Abwehrreihen immer weiter nach vorne – gerade dominante Mannschaften wie die Bayern „verteidigen hoch“. Das hat zwei Vorteile: Der Gegner hat weniger Raum zum Kombinieren und einen weiteren Weg zum Tor; umgekehrt ist nach einer Balleroberung der Weg zum gegnerischen Tor kürzer. Diese Defensivtaktik verlangt jedoch gute Organisation und ständige Aufmerksamkeit aller Spieler. Außerdem müssen Innenverteidiger schnell genug sein, um in Laufduellen gegen Stürmer zu bestehen. Thomas Linke sagt: „Als Verteidiger hast du heute ganz viel Raum im Rücken.“
Josip Stanišić
Kein Wunder, dass Upamecano und Stanišić in dieser Saison die schnellsten Bayern sind (34,1 km/h).* „Wenn wir viel den Ball haben, ist die Restverteidigung wichtig, um Konter zu verhindern“, sagt Stanišić. „Die Basis bleibt das Verteidigen – besonders im Strafraum.“ Aber sie müssen Dinge können, die zu Linkes Zeiten noch nicht so gefordert waren. „Wenn ich den Ball erobert hatte, habe ich ihn einfach ins Mittelfeld gespielt“, erzählt Linke. Dort gab es Spezialisten wie Stefan Effenberg für den Spielaufbau. Heute reicht das nicht mehr.
Innenverteidiger als Spielgestalter
Louis van Gaal brachte 2009 die Idee mit nach München, dass Verteidiger die ersten Aufbauspieler sind. c, sagt Stanišić. Heute brauchen Verteidiger auch kreative Fähigkeiten. Upamecano spielt im Schnitt 6,18 progressive Pässe pro 90 Minuten, Stanišić sogar 6,85. Der Durchschnitt auf ihrer Position liegt bei 3,63.
Daher verwundert es auch nicht, dass der Oberbayer Stanišić zwei Spieler als Vorbilder nennt, die ihre Positionen auf dem Platz radikal neu definierten. Einerseits den Brasilianer Dani Alves, der als Außenverteidiger eher wie ein Außenstürmer agierte. Und Philipp Lahm, der den Rechtsverteidiger zum spielgestaltenden Mittelfeldspieler machte. „Er hat gefühlt nie Fehler gemacht, wusste in jeder Situation, was zu tun ist, und hat immer die richtige Entscheidung getroffen“, sagt Stanišić. Dayot Upamecano hingegen spielte zunächst im Sturm oder im Mittelfeld. „Das hilft mir bis heute: Ich weiß, wie Offensivspieler denken und wie sie sich bewegen“, meint er. „Am Ende haben die Trainer gesagt: ‚Dayot, du bist groß und stark in den Zweikämpfen – du gehörst nach hinten.‘ Und das war richtig so.“
Dass Spitzenverteidiger in Top-Clubs nicht mehr nur gut verteidigen können müssen, ist Teil der generellen Entwicklung, die Spielern auf allen Positionen unterschiedliche Talente abfordert. Stürmer etwa führen heute mit ihrem aggressiven Anlaufen das Defensivspiel an. Doch weil taktische Entwicklungen im Fußball in Zyklen verlaufen, hat Thomas Linke einen Trend ausgemacht, der zunächst überrascht. „Zurzeit geht es eher wieder Richtung Manndeckung“, sagt er. Das Motto: „Eins gegen eins über den ganzen Platz.“ Der Fußball ist damit nicht wieder in den 1980er Jahren gelandet, in denen jeder Spieler einen Gegner deckte. Die Verteidiger verschieben zunächst weiter ballorientiert – packen sich dann aber ihre Gegenspieler.
Der englische Taktikexperte Michael Cox hat zwei Grundtypen des Innenverteidigers beschrieben: den „Hund“ und die „Katze“. Der „Hund“ bleibt dem Gegenspieler unablässig auf den Fersen und sucht aggressiv den dauernden Zweikampf. Die „Katze“ hingegen schlägt nach geduldiger Vorbereitung aus dem Hinterhalt zu. Die Prototypen für Cox waren Nemanja Vidić als „Hund“ und Rio Ferdinand als „Katze“ bei Manchester United. Man kann die Entwicklung des Verteidigens anhand dieser Pole beschreiben. Thomas Linke kommt eher aus dem Zeitalter des Hundes, Upamecano und Stanišić spielen in der Ära der Katze.
In Fußball-Deutschland wird aktuell hitzig diskutiert, ob bei der Ausbildung der Spieler zu viel Wert auf das taktische Denken gelegt worden ist und zu wenig auf die individuellen Fähigkeiten. Dass die Stürmer also nicht mehr so torgefährlich sind und die Verteidiger nicht mehr so gut grätschen. Thomas Linke teilt diese Kritik nicht. Er bewundert, dass die Spieler heute so schnell laufen und denken. Aber er findet auch, dass er als Manndecker alter Schule schon ein paar Fähigkeiten hatte, die auch heute auf dem Platz brauchbar sind. Er war ein Bindeglied zwischen dem klassischen Vorstopper und dem modernen Defensivspielmacher, er sagt: „Ich habe hohes Pressing immer schon geliebt.“ Doch vermutlich ist es so, dass Stanišić und Upamecano auch früher tolle Manndecker gewesen wären und Thomas Linke heute ein Verteidiger, der das Spiel machen kann. In einem Urteil ist sich Linke indes sicher: „Ich bin froh, dass ich damals Profi war und nicht heute.“ Das hat jedoch nichts mit Taktikentwicklungen und Matchplänen zu tun, sondern mit der Daueraufmerksamkeit der Öffentlichkeit und mit Social Media. „Wir konnten früher nach dem Spiel noch Spaß haben, und es hat nicht jeder mitbekommen“, sagt Linke und lacht. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte.
Der Text erschien in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“:
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