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Jochen Sauer: „Wo FC Bayern draufsteht, ist auch FC Bayern drin"

Seit nunmehr vier Jahren widmen sich die Verantwortlichen am FC Bayern Campus der Ausbildung neuer Fußballtalente. Campus-Leiter Jochen Sauer erklärt im Interview mit dem Mitgliedermagazin „51“ worauf es bei der Entwicklung der Junioren ankommt. 

Das Interview mit Jochen Sauer

Herr Sauer, kürzlich wurde das Jugendwort des Jahres gekürt: „cringe“ - ein Ausdruck für Fremdschämen. Ist Ihnen das Wort am Campus schon untergekommen?
(lächelt) „Also, ganz ehrlich: Ich kenne es nicht. Obwohl ich durch meine zwei Töchter eigentlich viel mitbekomme, am Campus regelmäßig in den Kabinen bin und die Jungs in der Mensa um mich habe. Wenn man hört, wie sich die jungen Leute miteinander unter­halten, hat man manchmal schon das Gefühl, einer Fremdsprache zu lauschen.“

Gibt es eine Redewendung der Jungs, die Ihnen geläufig ist?
„Ja, die gibt es: Digger. Das hört man ständig. „Hey, Digger, nimm du die Trikots.“ Oder: „Hey, Digger, trag du die Flaschen raus.“ Ich selbst verwende es aber eher nicht.“

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Jochen Sauer ist seit 2017 Leiter des FC Bayern Campus. (Foto: Fritz Beck)

Jura-Studium statt Golf-Karriere

Das würde wahrscheinlich auch für „cringe“ sorgen. Was Sie mit den Spielern am Campus verbindet, ist, dass Sie selbst auch mal eine Profikarriere angestrebt haben - auf dem Golfplatz.
„Das stimmt. Nach dem Abitur habe ich mir zwei Jahre Zeit genommen, um es in den Profibereich zu schaffen. Ich habe Bundesliga, nationale und internationale Turniere gespielt. Aber ich musste auch feststellen, dass mir ein bisschen die Basis fehlte, weil ich erst relativ spät, mit 16, mit Golf angefangen habe. Anderen Spielern, die mit sechs oder sieben Jahren schon den Golfschläger in der Hand hatten, fiel es leichter, sie mussten nicht so viel trainieren. Am Ende habe ich mich auf mein Jura-Studium fokussiert.“

Wie schwer ist es Ihnen gefallen, Ihren Traum aufzugeben?
„Ich war ehrgeizig und habe auch nicht schlagartig aufgehört, sondern weiter Bundesliga gespielt und gehofft, doch noch den entscheidenden Schritt zu machen. Im Laufe der Zeit ist es dann immer weniger Golf und immer mehr Studium geworden. Es war ein langsamer Übergang. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden."

Übung macht den Meister

Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen in Ihren heutigen Job?
„Aus meinem Studium ein planvolles, strukturiertes, nüchternes Vorgehen. Außerdem habe ich später als Jurist alle möglichen Problemstellungen für einen Fußballverein kennengelernt: vom Vereinsrecht über Doping bis hin zum Lizenzierungsverfahren, auch wie Entscheidungen in verschiedenen Gremien getroffen werden. Vom Golfen habe ich eine Erkenntnis mitgenommen, die sich unsere Trainer fast in jeder zweiten Sitzung von mir anhören müssen: dass Übung den Meister macht. Du musst arbeiten, arbeiten, üben, üben. Im Golf merkst du von Tag zu Tag, wie du dich verbesserst, je mehr Bälle du schlägst. Es entstehen Automatismen. Auch im Fußball muss man die Basistechniken immer wieder üben. Selbst ein Cristiano Ronaldo sagt, dass er früher erst einmal tausend Freistöße geschossen hat, damit die Bälle heute so fliegen, wie sie eben fliegen.“

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Nach dem Abitur versuchte Sauer, sich zwei Jahre lang im Golfsport als Profi zu etablieren. (Foto: Fritz Beck)

Messis gibt es nur durch Förderung

Inzwischen sind Sie seit mehr als vier Jahren Leiter des FC Bayern Campus. Sind Sie im Soll?
„Was die grundsätzliche Zielsetzung angeht, Spieler auszubilden, die die Chance haben, bei unseren Profis dabei zu sein, sind wir auf keinem schlechten Weg. Das zeigen Jamal Musiala und Josip Stanišić. Auch darüber hinaus haben wir in den letzten Jahren etliche Spieler für den Profifußball herausgebracht: Wooyeong Jeong spielt bei Freiburg Bundesliga, Sarpreet Singh ist einer der Leistungsträger in Regensburg, Lasse Mai und Marco Friedl haben sich in Bremen etabliert, Ron-Thorben Hoffmann ist Stammtorhüter in Sunderland, Otschi Wriedt und Derrick Köhn spielen erste Liga in Holland - unsere Quote kann sich generell sehen lassen.“

Spricht man über Talente, landen viele beim 13-jährigen Lionel Messi, der beim FC Barcelona auf einer Serviette verpflichtet wurde. Suchen Sie gemeinsam mit Hasan Salihamidžić und seinem Team den bayerischen Messi?
„Es ist utopisch zu glauben, dass man einen Spieler bis zur U19 fertig ausbilden und mit einem Schleifchen in die Allianz Arena tragen kann, wo er dann in der Startelf spielt. Messis werden erst zu Messis, wenn sie bei den Profis sind. Erst dort lernst du, was du brauchst, um zu den Allerbesten zu gehören. Das ist Learning by doing auf allerhöchstem Niveau. Das war auch bei Jamal Musiala so. Er hat ein halbes Jahr lang oben mittrainiert und dort noch mal unheimlich viel gelernt. Am Campus können wir einem talentierten Spieler die technische, athletische und charakterliche Basis vermitteln und ihn optimal ausbilden, damit er dann in der Lage ist, bei den Profis zu einem sehr guten oder auch Weltklassespieler zu werden. Deswegen findet man keinen Messi. Messis werden durch Weiterentwicklung gemacht.“

Wie wird aus einem talentierten Spieler ein Bayern-Spieler, wie verabreicht man ihm das viel zitierte Münchner „Mia san mia“?
„Das geht nicht von jetzt auf gleich. Das „Mia san mia“ kann man nicht einfach einatmen. Deswegen ist es auch so wichtig, die Spieler lange hierzubehalten. Damit sie lernen, Widerstände zu überwinden, verloren geglaubte Spiele noch zu drehen, bis zum Schluss an sich zu glauben. Damit sie den Erfolgshunger spüren, den Druck, der von außen kommt, aber auch die entspannte, familiäre Atmosphäre des Klubs. Im Laufe der Zeit verinnerlichen die Spieler das, das merkt man. Wo Bayern draufsteht, ist auch Bayern drin.“

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Am Campus Zuhause: Jochen Sauer in der Spielstätte des Nachwuchsleistungszentrums. (Foto: Fritz Beck)

„Dafür müssen wir nicht nach Oberammergau fahren“

Das absolute Paradebeispiel für ein Bayern-Eigengewächs ist Thomas Müller. Karl-Heinz Rummenigge sagte immer, dass man ihn sich bei den Herrgottschnitzern in Oberammergau anfertigen lassen müsste, wenn es ihn nicht gäbe.
Thomas Müller, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger - an diesen Spielern orientieren wir uns. Sie kommen aus der Region oder dem Umland, haben lange in unserer Jugend gespielt. Man merkt, dass sie eine ganz besondere Identifikation mit dem Klub in sich tragen. Solche Spieler bleiben dem Klub oft bis zum Karriereende treu und stellen auch für unsere Fans auf der ganzen Welt wichtige Identi­fi­ka­tionsfiguren dar. Unser großes Ziel ist es daher, selbst einen neuen Müller zu schnitzen - dafür müssen wir nicht nach Oberammergau fahren.“

Sind solche Heimat-Spieler in einer Zeit, in der sich Investorenklubs Mannschaften in der ganzen Welt zusammenkaufen, besonders wertvoll?
„Wir haben am Campus eine Riesenquote an Münchner und bayerischen Spielern. Für jeden, der hier aus der Region kommt, kämpfen wir ganz besonders, damit er es möglichst weit schafft, im Idealfall bis zu unseren Profis. Es gibt doch nichts Schöneres, als von einem Spieler sagen zu können: Als Zehnjähriger ist er zu uns gekommen, jetzt spielt er bei den Profis."

Uli Hoeneß bezeichnete den Campus mal als Bayerns Antwort auf den Transferwahnsinn. Wie viel Druck spüren Sie persönlich?
„Es war völlig klar, dass die Erwartungshaltung am Campus mit seiner modernen Infrastruktur eine völlig andere ist als zuvor. Und ich habe das Gefühl, dass der Vorstand zufrieden ist mit der Entwicklung. Letztes Jahr hat Jamal Musiala einen der begehrten Plätze in der Offensive eingenommen. Jetzt hat sich Josip Stanišić den Platz als Back-up von Benjamin Pavard erkämpft, eine Position, für die der Verein sonst wahrscheinlich einen zweistelligen Millionenbetrag hätte bezahlen müssen. Es wäre aber vermessen zu denken, dass wir jedes Jahr einen Spieler im 20er-Kader der Profis unterbekommen. Das wissen die Verantwortlichen auch. Aber wir wollen eine Regelmäßigkeit reinbringen. Dann ist der Campus zumindest eine Teilantwort, so wie es Uli Hoeneß gesagt hat.“

Und wie sieht der andere Teil der Antwort aus?
„Wir müssen uns einen eigenen Transfermarkt aufbauen. Wenn wir zehn Jahre in ein Talent investieren, sollten wir es immer im Blick behalten und die Option haben, darauf zurückgreifen zu können. Ich stelle mal die These auf, dass von 20 verliehenen Talenten mindestens eines nach einer gewissen Zeit das Zeug hat, bei uns im Profikader geführt zu werden. Damit hätten wir dann schon wieder Geld gespart im Vergleich zum Transfer eines externen Spielers. Zudem bekommen wir so einen Spieler, der den FC Bayern von jungen Jahren an verinnerlicht hat. Diese „Leiherfolge“ gab es in der Vergangenheit mit einem Philipp Lahm, David Alaba oder Toni Kroos ja auch.“

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Für Sauer ist der Campus ein Teil der Antwort auf die aktuellen horrenden Summen auf dem Transfermarkt. (Foto: Fritz Beck)

Der Sprung nach oben

Danny Schwarz hat bis vor Kurzem die Leihspieler betreut. Er ist jetzt Cheftrainer in Würzburg. Gibt es am Campus schon einen Nachfolger für ihn?
„Danny war die ideale Besetzung, weil er unsere Philosophie kennt und mit vielen unserer Talente schon als Trainer gearbeitet hatte. Wir werden diese Stelle definitiv neu besetzen, suchen hier aber noch die optimale Lösung. Es ist einfach wichtig, unsere verliehenen Talente individuell zu begleiten.“

Sind schon weitere Talente für die Profis in Sicht?
„In der Regionalliga spielen wir mit einer extrem jungen Mannschaft, oft mit einem Altersschnitt unter 19 Jahren, vorne mit. Wenn sich die Jungs weiter so entwickeln und dann die Möglichkeit bekommen, sich bei den Profis zu zeigen, so wie zuletzt Josip Stanišić, dann glaube ich schon, dass es ein, zwei Spieler gibt, die das Potenzial für unsere Profis haben. Diesen letzten Schritt muss aber jeder selbst machen. Da können wir nicht mehr groß nachhelfen, nur noch unterstützen und motivieren.“

Wie wichtig ist es eigentlich für junge Fußballer, sich selbst gut einschätzen zu können?
„Ich kann mich noch gut an Jérôme und Kevin-Prince Boateng 2000, 2001 erinnern, als ich bei Hertha BSC war. Man hat gesehen, dass sie hochtalentiert sind, aber man hatte auch das Gefühl, dass sie sich selbst zunächst nicht zu viel Druck gemacht haben. Das ist anfangs sicherlich hilfreich. Wenn man aber das Höchstmögliche anstrebt, kommt unweigerlich irgendwann der Punkt, wo man sich auch selbst hinterfragen muss. Das war auch bei Jérôme und Kevin so. Was habe ich schlecht gemacht, obwohl wir gewonnen haben? Was habe ich gut gemacht, obwohl wir verloren haben? Sich selbst solche Fragen stellen zu können, ermöglicht es, eine Stufe höher zu kommen als andere.“

Wie ausgeprägt ist dieser Charakterzug in der heutigen jungen Generation?
„Da hat sich über die Jahre nicht viel verändert. Manche Spieler tun sich schwer damit, sich selbst einzuschätzen, andere wie Josip Stanišić horchen in sich hinein, hinterfragen sich selbst und wissen genau, was sie können und woran sie arbeiten müssen.“

„Es geht darum, individuelle Stärken auszubilden“

Was entgegnen Sie auf den Vorwurf, dass in einem Nachwuchsleistungszentrum die Kreativität eines Einzelspielers verloren gehe?
„Ich kann die Diskussion zum Teil nachvollziehen. Jahrelang lag in den NLZs der Fokus vielleicht zu sehr auf den Themen Mannschaftstaktik und Spielsysteme. Dabei geht verloren, dass ein Spieler aktiv ist, den Ball haben will, ins Eins-gegen-eins geht, überraschende Dinge außerhalb der taktischen Vorgaben macht. Wir müssen wieder mehr an positions- und spielerspe­zifischen Dingen arbeiten. Es geht darum, individuelle Stärken auszubilden: Tempo, Dribbling, dass ein Abwehrspieler nicht nur einen guten Defensivkopfball kann, sondern auch selbst fünf bis acht Tore in der Saison beisteuert. Das forcieren wir seit einigen Jahren. Man muss einfach früh genug darauf achten, welche Fähigkeiten ein Spieler hat, und muss diese individuell weiterentwickeln.“

Wie schwer oder leicht ist es, für den FC Bayern Talente zu verpflichten? So manch einen dürfte die enorme Konkurrenz schrecken …
„Ich muss keinem den FC Bayern erklären, diese Strahlkraft ist ein Riesenpfund für uns. Die Herausforderung ist aber, den Jungs das Gefühl zu geben, dass sie trotz der enormen Qualität im Profibereich eine realistische Chance haben, dort auch anzukommen. Da braucht es manchmal schon Überzeugungskraft. Aber wenn einer sagt, ich will das Höchste erreichen, haben wir hier alle Argumente. Wir sind in den Gesprächen mit den Spielern und Eltern auch immer ehrlich: Beim FC Bayern leben wir einen enormen Leistungsgedanken. Jeder, der unser Trikot anzieht, spürt diesen Druck. Jeder Gegner gibt immer nicht nur 100 Prozent, sondern 120. Darüber hinaus ist das bayerische Schulsystem eine Herausforderung. Für all das muss man bereit sein. Aber wir können sicher nicht klagen: Es finden sich nach wie vor genügend Talente, die hier ihren Traum verwirklichen wollen. Der Campus lebt (lächelt).“

Die U19 des FC Bayern konnte zum ersten Mal ins Halbfinale des DFB-Pokals der Junioren einziehen: