Zehn Jahre lang griff Werner Olk als „Adler von Giesing“ nach großer Beute. Am 18. Januar feiert er 85. Geburtstag. Als Kind vor dem Krieg geflohen, machte er seine Lebensgeschichte mit Willen und Disziplin zum Meisterstück.
Die Morgensonne tänzelt auf der Oberfläche des Ammersees, der Blick reicht hier vom Nordufer aus bis weit hinein in die bayerischen Alpen. Wie immer im Trainingslager des FC Bayern steht Abwehrchef Werner Olk in der Früh auf seinem Balkon, um sein Gymnastik-Programm durchzuziehen. Drinnen schläft sein gerade mal volljähriger Zimmerkollege noch den Schlaf der Gerechten. Mit Mitte 20 ist Olk einer der erfahrensten Spieler des jungen Teams, daher wurde ihm von Manager Robert Schwan die Aufgabe erteilt, sich um Franz Beckenbauer, das größte Talent der Roten, zu kümmern. Olk sollte später als „Adler von Giesing“ in die FCB-Chroniken eingehen – er hatte immer alles im Blick, auf und außerhalb des Spielfelds. „Mein Auftrag war, auf den Franz zu achten und ihm Sicherheit zu geben“, erzählt er mit dem Abstand von mehr als 60 Jahren.
Sicherheit – ein Gefühl, das Olk selbst als Kind nicht kannte. Geboren am 18. Januar 1938 in Osterode, muss er nur wenige Monate nach der Einschulung im Frühjahr 1945 aus seiner Heimat flüchten. „Eines Tages gab es Fliegeralarm. Als ich nach Hause kam, sagte mein Vater, ich solle so schnell wie möglich meinen kleinen Koffer packen. Er war Oberlokführer bei der Bahn und hatte organisiert, dass meine Mutter, meine Schwester und ich mit dem letzten Lazarettzug, den es überhaupt noch gab, aus Ostpreußen herauskamen.“
Stundenlang kauern die drei zwischen schwer verwundeten Soldaten im überfüllten Zug. Schmerzmittel gibt es längst keine mehr, das Geschrei hat er heute noch in den Ohren, sagt Olk. In Potsdam verbringen sie einige Tage mit vielen anderen Geflüchteten in einer Turnhalle, eine Taschenuhr, die er von seinem Vater erben sollte, wird ihm gestohlen. Sie kommen zunächst bei Verwandten unter, ziehen nach ein paar rastlosen Monaten weiter nach Lübeck, wo der Vater schließlich wieder zu Frau und Kindern stößt. Gemeinsam soll nun in der Nähe von Hannover der Neuanfang gemacht werden.
„Als ich nach Hause kam, sagte mein Vater, ich solle so schnell wie möglich meinen kleinen Koffer packen. Er war Oberlokführer bei der Bahn und hatte organisiert, dass meine Mutter, meine Schwester und ich mit dem letzten Lazarettzug, den es überhaupt noch gab, aus Ostpreußen herauskamen.”
Werner Olk
Werner Olk ist zehn Jahre alt, als er zum ersten Mal im Verein gegen einen echten Fußball treten darf – bis dahin hatten vor allem Wollknäuel und zusammengeflickte Stofffetzen herhalten müssen. Allerdings muss er barfuß auf den Ascheplätzen spielen, Schuhe kann sich die Familie nicht leisten, selbst im Winter stapft er mit nackten Füßen eisern durch den Schnee in die Schule. So etwas härtet ab, fürs Leben und den Fußballplatz. Und weil er dank seiner zweiten großen Leidenschaft Leichtathletik – Olk wird Jahre später sogar Deutscher Meister im Fünfkampf – obendrein topfit ist, macht er auch als Nachwuchsspieler von sich reden. Er wird in die Niedersachsenauswahl und schließlich in die Jugendnationalmannschaft berufen.
Sein erstes Geld verdient sich Olk als Jugendlicher frühmorgens auf dem Tennisplatz. „Für den Elektromeister habe ich um sieben Uhr früh die Bälle aufgehoben, das gab 20 Pfennige.“ Von da ging es direkt in die Schule. Mit 18 Jahren macht er die Mittlere Reife und wechselt zu Arminia Hannover in die Amateur-Oberliga Niedersachsen, die damals zweithöchste Spielklasse. „Ich war der jüngste Hüpfer dort und habe die anderen erst einmal ehrfürchtig mit ‚Sie‘ angesprochen. Der eine war Arzt, der andere Manager bei Continental – den Beruf des Profifußballers gab es ja noch gar nicht.“ Aus diesem Grund hatte Olk eine Lehre als Betriebsschlosser begonnen. Er hatte sich bereits als Kind in den Kopf gesetzt, einmal Ingenieur zu werden, dafür muss er nach der dreijährigen Lehre aber später noch studieren.
Für die Amateur-Nationalmannschaft bestreitet Olk 1959 drei Länderspiele, die großen Clubs werden auf den kompromisslosen Verteidiger aufmerksam. Der Hamburger SV möchte ihn zu Saisonbeginn 1960/61 verpflichten, und auch aus Frankfurt bekommt er ein kaum abzulehnendes Angebot. Die Eintracht gehört zur kontinentalen Elite und muss sich 1960 im Europapokal der Landesmeister erst im Finale dem unbesiegbaren Real Madrid um Ferenc Puskás und Alfredo di Stéfano geschlagen geben. Sportlich eine Riesenherausforderung – doch Olk setzt andere Prioritäten. Weil weder der HSV noch Frankfurt ihm einen Studienplatz garantieren können, sagt er beiden Clubs ab und fährt mit seiner Freundin nach München, um mit FCB-Geschäftsführer Walter Fembeck zu verhandeln. „Es hatte über 30 Grad draußen, und zum Mittagessen gab es Dürkheimer Rotwein, eine Halbe Bier und Whisky. Ich hatte den ersten Schwips meines Lebens, aber wir waren uns einig, und der FC Bayern organisierte einen Studienplatz für mich – so hat meine Karriere in München begonnen.“
Auf Anhieb wird er in der Bayern-Abwehr zum Leistungsträger und darf sich sogar Hoffnungen auf die Weltmeisterschaft 1962 in Chile machen. Da er sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen möchte, opfert er ein Jahr seines Studiums, nimmt an allen Lehrgängen von Bundestrainer Sepp Herberger teil. Doch weil er kurz vor der Kader-Nominierung mit dem FC Bayern ein Spiel gegen die österreichische Nationalmannschaft bestreitet, anstatt zum DFB zu reisen, wird er nicht für die WM berücksichtigt. Olk braucht lange, um diese Enttäuschung zu verarbeiten. Immerhin: Nach dem Turnier, bei dem Deutschland im Viertelfinale gegen Jugoslawien rausfliegt, schreibt ihm der Bundestrainer einen persönlichen Brief. „Herberger hat sich darin entschuldigt, dass er mich nicht mitgenommen hat. Den Brief habe ich heute noch zu Hause, ich hätte ihn schon längst einrahmen sollen“, kann Olk mehr als 60 Jahre später zumindest milde darüber lächeln.
inige Monate nach der Weltmeisterschaft folgt der nächste sportliche Tiefschlag für Olk und den gesamten FC Bayern: Die Roten werden nicht für die neu gegründete Bundesliga berücksichtigt, der Lokalrivale TSV 1860 erhält den Vorzug – und im Gegensatz zur Nicht-WM-Nominierung nagt dies noch heute an Olk. „Sechzig! Sechzig! Die Anfeuerungsrufe konntest du nicht mehr hören. Und wie sie sich über uns lustig gemacht haben: ‚Wir fliegen nach Hamburg, ihr fahrt mit dem Bus nach Ingolstadt.‘ Das hat uns angestachelt.“
Aufstiegstipp für Manager Schwan
Die Bayern wollen das schnellstens geraderücken, marschieren – angeführt vom 18-jährigen Franz Beckenbauer und den nur unwesentlich älteren Sepp Maier (19), Dieter Brenninger (19), Adi Kunstwadl (19) und Rainer Ohlhauser (22) – durch die Regionalliga und scheinen auch in der Aufstiegsrunde zunächst unschlagbar zu sein, verspielen dann aber im saarländischen Neunkirchen und bei Tasmania Berlin alles – Olk muss das ganze Drama nach einer Meniskusoperation als Zuschauer mit ansehen.
„Ich bin zu Schwan und habe ihm gesagt: ‚Wenn Sie den Franz beim FC Bayern halten können, dann bleiben alle anderen auch.‘ Und so kam es.”
Werner Olk
Nach dem letzten, unbedeutenden Heimspiel gegen St. Pauli besteht Robert Schwan darauf, dass die gesamte Mannschaft noch einmal eine Nacht zusammen am Ammersee verbringt. Nach dem Schock möchte der Manager so schnell wie möglich die wichtigsten Verträge verlängern und den Aufstieg im nächsten Jahr anpeilen. Die Frage ist nur, wie er seine heftig umworbenen Teenager für die Regionalliga begeistern kann – vor allem Franz Beckenbauer wird mit lukrativen Angeboten aus Italien gelockt. „Ich bin zu Schwan und habe ihm gesagt: ‚Wenn Sie den Franz beim FC Bayern halten können, dann bleiben alle anderen auch.‘ Und so kam es“, erzählt Olk.
Im Sommer 1964 stößt ein 18-Jähriger aus Nördlingen zur Bayern-Mannschaft. Es heißt, dieser Gerd Müller sei der geborene Torjäger. Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten darf Müller auf Geheiß von Präsident Neudecker erstmals im Oktober beim Auswärtsspiel beim Freiburger FC auflaufen – die Bayern gewinnen 11:2, Müller erzielt seinen ersten Treffer für die Münchner, „und von da an traf er in so gut wie jedem Spiel“, erinnert sich Olk, der damals ebenfalls auf dem Platz stand. „Dieses Spiel war Gerds Geburtsstunde – und damit die von uns allen.“ Die Saison wird zum Triumphzug, nach einem 8:0-Sieg bei Tennis Borussia Berlin steigen die Bayern 1965 in die Bundesliga auf und werden auf Händen aus dem Stadion getragen. Für Olk ist es der „schönste Moment meiner Karriere. In München fuhren wir mit dem Autokorso durch die Stadt, die Begeisterung war riesig, die Feier am Nockherberg grandios.“ Auch an das Getränk der Stunde erinnert sich Olk noch heute ganz genau: Deichselschieber, Weißbier mit Sekt.
Trainerlaufbahn statt NASA-Ingenieur
Mit 27 Jahren wird Olk, das Studium ist mittlerweile abgeschlossen, also doch noch Bundesliga-Profi – und bei seinem Debüt plötzlich zum Kapitän. Weil sich der eigentliche Spielführer Peter Kupferschmidt im Auftaktspiel verletzt, muss schnell Ersatz gefunden werden. „Da sagte Robert Schwan in der Kabine: ‚Werner, du bist der Älteste und Intelligenteste, du bist ab sofort der Chef.‘“ Was sich in diesem Moment höchstens erahnen lässt: Olk nimmt als Kapitän in den folgenden Jahren dreimal den DFB-Pokal entgegen, einmal den Europapokal der Pokalsieger (1967) und 1969 schließlich die Deutsche Meisterschale. Der „Adler von Giesing“ machte große Beute.
Als er sich 1970 nach einem Bandscheibenvorfall nicht mehr gut genug für das Top-Niveau in der Bundesliga fühlt, wechselt Olk zum FC Aarau in die Schweiz. Nebenbei arbeitet er für die Firma Kern & Co., die unter anderem mit der US-Raumfahrtbehörde kooperiert. 13 Jahre nachdem er sich gegen den Europapokalfinalisten Frankfurt und für sein Studium in München entschieden hatte, steht er erneut vor einer großen Gabelung seines Lebens: Olk erhält zu seinem Karriereende das Angebot, in die USA zu ziehen und dort als Betriebsingenieur für die NASA zu arbeiten – doch er entscheidet sich für die Familie und den Fußball: „Ich wollte, dass meine Tochter in Deutschland eingeschult wird. Und zum anderen hätte ich in einem normalen Bürojob den grünen Rasen mit Sicherheit bald vermisst.“
Olk geht mit seiner Familie zurück nach München, wird ein Jahr lang Manager beim TSV 1860 und wechselt anschließend zurück auf den Platz. Als Cheftrainer ist er unter anderem für Augsburg, Braunschweig, Darmstadt, Freiburg und Karlsruhe aktiv, als Co-Trainer beim FC Bayern assistiert er Dettmar Cramer und Udo Lattek, ehe es ihn in den 90ern noch nach Marokko und Ägypten zieht. „Ich habe wunderschöne Erinnerungen gesammelt, Erfolge gefeiert und die Welt gesehen“, sagt Olk. „Unglaublich, was mir der Fußball ermöglicht hat.“ Und es ist mehr als nur eine schöne Pointe, dass er später das NASA-Angebot ausgeschlagen hat: Als „Adler von Giesing“ erreichte er Sphären – so hoch, davon können Astronauten nur träumen.
Illustrationen: Jan Steins
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Mitgliedermagazins „51“ erschienen.