Best-of-Videos von alten Spielern funktionieren wie eine Zeitmaschine. Je älter der Spiel-Film ist, desto weniger erinnert jüngere Fans das, was sie auf dem Platz sehen, an den modernen Fußball. Die Spiele der 60er, 70er, 80er Jahre wirken für sie seltsam langsam, die Tricks fast einfallslos, die Pässe nicht ganz so exakt, so chirurgisch. Als junger Fan bleibt einem oft nur wertzuschätzen, wie gut diese Spieler für ihre Zeit waren. Ganz selten sieht man allerdings ein Video eines Ex-Spielers, das einen kalt erwischt. Spieler, die wie Zeitreisende wirken, als wären sie den anderen auf dem Platz um Jahrzehnte voraus: Diego Maradonas Dribblings. Die Tore von Johan Cruyff. Und, ganz sicher, Franz Beckenbauers Pässe mit dem Außenrist.
Für einen langen Pass braucht man eine Vision und Risikobereitschaft. Man muss winzige Lücken und Laufwege der Mitspieler vorhersehen. Und man muss mutig genug sein, alles auf eine Karte zu setzen. Ein langer 50-Meter-Pass kann eine ganze Abwehr knacken – oder beim Gegner landen.
Das Zentrum der Mannschaft
Großmeister des langen Passes wie Beckenbauer verfügen neben Vision und Risikobereitschaft deshalb über weitere Skills: über Kreativität und die technischen Fähigkeiten, die Verteidiger trotz ihres Zeitvorteils auf dem falschen Fuß zu erwischen. Zum Beispiel, indem sie einen Spezialeffekt nutzen: den Pass mit Effet, geschlagen mit dem Außenrist, dessen ungerade, fast kurvige Flugbahn es Verteidigern fast unmöglich macht, sein Ziel zu erahnen.
München, 14. April 1976, Rückspiel im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister. Franz Beckenbauers Bayern gegen Real Madrid um Paul Breitner und Günter Netzer.
Beckenbauer ist der Fixstern der Mannschaft, der die anderen Top-Stars wie Uli Hoeneß, Gerd Müller und Karl-Heinz Rummenigge zum Leuchten bringt. Immer wieder schickt er den Ball auf eine lange, geschwungene Flugbahn und öffnet so Räume für die schnellen Stürmer. Erst wenn man die Szenen in Zeitlupe analysiert, versteht man, was Beckenbauer da genau macht: Er winkelt das Schussbein lange vor dem eigentlichen Kontakt nach innen an, legt ganz viel Gefühl und genau die richtige Kraft ins Fußgelenk und trifft den Ball mit dem Außenrist seitlich und unterhalb der Mitte. Nachmachen zu Hause nicht empfohlen.
Das Spiel endet 2:0 für Bayern. Franz Beckenbauer, der Kaiser, triumphiert über die Königlichen – wenige Wochen später gewinnt der FC Bayern zum dritten Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister.
Beckenbauers Eleganz und Kreativität sind seinen Landsleuten lange fast ein wenig unheimlich. „Die Eleganz seiner Bewegungen“, schwärmt Otto Rehhagel, in den 1960er Jahren als Defensivklopper bei Hertha BSC angestellt, als er den angehenden Kaiser vor einem Spiel über den Ku’damm flanieren sieht, „wunderbar, südländisch.“ Dabei wächst Beckenbauer nach Kriegsende im Münchner Arbeiterviertel Giesing auf, bodenständig, bescheiden, der Vater ist angestellt bei der Post. Schon seine Grundschullehrerin beschreibt den kleinen Franz als übernatürliche Erscheinung: „Er ist im Turnsaal herumgeschossen, aber er konnte auf einen Schlag anhalten, die Richtung ändern und hat nie jemand angerempelt. Er ist wie ein Blitz zwischen den Kindern herumgelaufen.“
Neue Position auf dem Platz
Beckenbauer ist aber nicht nur schneller auf den Beinen, sondern auch schneller im Kopf. Zwar beginnt er seine Karriere beim SC 1906 München und später in der FCB-Jugend als Außenstürmer, erkennt aber schon als junger Profi, dass die wichtigste Position im Fußball weder im Sturm noch im Mittelfeld, sondern in der Verteidigung liegt.
Je älter er wird, desto weiter rückt Beckenbauer nach hinten – und hat das Spiel immer mehr vor sich. Am Ende seiner langen Karriere wird er sagen: „Mittelfeld war mir nicht recht, damals gab es noch die Manndeckung. Das mochte ich nicht, dass mir einer 90 Minuten hinterherläuft und in die Haxen reinhaut. Das entsprach nicht meiner Fußball-Vorstellung.“
Es ist Schicksal, dass Trainerpioniere ausgerechnet Mitte der 1960er Jahre einen neuen Spielertypus erfinden, der perfekt zu Beckenbauer passt: den Libero – oder wie es in Deutschland heißt: Ausputzer. Für heutige Ohren klingt „Libero“ altbacken und verschwitzt: der Typ, der reingrätscht, wenn alle anderen Verteidiger abgehängt wurden. Beckenbauer ist zwar auch schnell und körperlich robust, unzerstörbar fast (in seiner Zeit bei Bayern verpasste er nur zwölf Bundesliga-Spiele verletzungsbedingt). Im konservativen Fußball-Deutschland braucht es jedoch jemanden wie den selbstbewussten Kaiser, um aus dem rein defensiven Arbeiter einen Wandler zwischen der Welt der Verteidigung und der Welt des Angriffs zu machen, einen „freien Mann“, der ohne direkten Gegenspieler spielt und überall auf dem Platz die entscheidenden Überzahlsituationen schafft.
Beckenbauer ist auf dem Spielfeld das, was der Regisseur beim Film ist: „Action!“ – alles hört auf seine stummen Kommandos und folgt seiner Vision, mit den langen Pässen bestimmt er den Rhythmus des Spiels.
Beckenbauer führt die Bayern zu drei Meisterschaften in Serie, gewinnt den Europapokal-Hattrick, er ist Europameister und neben dem Brasilianer Mario Zagallo und dem Franzosen Didier Deschamps der einzige Mensch auf dem Planeten, der sowohl als Spieler wie auch als Trainer die WM gewinnt. Und ach ja, dann war da noch der 30. März 1974. Der Tag, an dem der Regisseur nicht nur seine Mitspieler in Szene setzt, sondern selbst als Hauptdarsteller auf die Bühne tritt.
28. Bundesliga-Spieltag, Wedaustadion Duisburg, 22. Minute. Dietmar Linders, der Torwart des MSV, stellt die Menschenmauer vor seinem Tor so dicht, dass sich auf den alten Aufnahmen nicht einmal richtig erkennen lässt, aus wie vielen Spielern sie besteht. Eines ist klar: Es ist ein echtes Bollwerk, das sich mit Gewalt nicht überwinden lässt. Franz Beckenbauer läuft an. Vier, fünf kleine Schritte und dann: ein ganz sanfter Chip mit dem Außenrist. Linders sieht den Ball zwar, er springt, er macht sich lang. Keine Chance. Der Ball gleitet scheinbar schwerelos über seine Handschuhe hinweg in den Winkel. 1:0 für die Bayern, die am Ende 4:0 gewinnen. Franz Beckenbauer hat mit diesem Tor seinem Signature Move ein eigenes Denkmal für die Ewigkeit geschaffen. Man könnte es nennen: „Des Kaisers Außenrist“.
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