München, Bordeaux, Afrika – der Fußball hat Gernot Rohr Grenzen überwinden lassen. Und er ist noch lange nicht müde. Ein Interview zum 70. Geburtstag über Abenteuer als Spieler und Trainer sowie seine ewige Verbindung zum FCB.
Das Interview mit Gernot Rohr
Herr Rohr, bei Ihrem Lebenslauf muss die erste Frage lauten: Wo sind Sie denn gerade?
„In Cotonou in Benin, wo ich seit März Nationaltrainer bin. Ich bereite die nächsten Länderspiele vor. Die Stadt ist sehr schön, direkt am Meer, mit einem großen, breiten Strand, wo man viele Jungs Fußball spielen sieht. Das Land ist total fußballverrückt.“
Benin war noch nie bei einer Weltmeisterschaft und auch nicht beim letzten Africa Cup.
„Das stimmt. Aber ich spüre hier eine Aufbruchstimmung, man will mit jungen Spielern etwas aufbauen. Die Teilnahme an der WM 2026 wäre ein Traum. Afrika wird dort nicht mehr wie zuletzt mit fünf Ländern vertreten sein, sondern mit neun oder sogar zehn, wenn sich ein Team noch über die Play-offs qualifiziert. Erst einmal kämpfen wir aber um die Qualifikation für den Africa Cup 2024. Dafür müssen wir in unserer Vierergruppe Zweiter werden. Aktuell sind wir das, nachdem uns am grünen Tisch ein Sieg zugesprochen wurde. Zuletzt beim 1:1 gegen Ruanda war beim Gegner ein gesperrter Spieler auf dem Platz. Jetzt spielen wir noch gegen Senegal und Mosambik.“
Bei Senegal spielen Sadio Mané und Bouna Sarr. Ihre Wege kreuzen sich also mal wieder mit dem FC Bayern.
„Das ist schön. Und es gibt auch einen Spieler aus Benin bei Bayern: Désiré Sègbè bei den Amateuren. Ich habe ihn noch nicht eingeladen, aber ich habe ihn nicht vergessen.“
„Die Begeisterung für den Fußball kann man nicht von heute auf morgen einfach zur Seite legen. Als das Angebot kam, hat es mich gereizt. Dazu kommt: Benin ist ein sehr angenehmes Land.”
Gernot Rohr
Sie werden bald 70, da darf die Frage erlaubt sein: Warum sitzen Sie nicht gemütlich zu Hause in Cap Ferret und blicken auf den Atlantik?
„Die Frage ist berechtigt, und die Antwort ist ganz einfach: weil mir meine Arbeit Spaß macht. Die Begeisterung für den Fußball kann man nicht von heute auf morgen einfach zur Seite legen. Als das Angebot kam, hat es mich gereizt. Dazu kommt: Benin ist ein sehr angenehmes Land. Hier gibt es Demokratie, kein Militärregime, keinen Terrorismus. Man atmet frei.“
Benin ist Ihre fünfte Station als Nationaltrainer in Westafrika. Werden Sie in der Region auf den FC Bayern angesprochen?
„Sehr häufig. Bayern hat hier in Afrika einen sehr guten Ruf. In den Medien ist in meinem Zusammenhang immer vom Ex-Verteidiger von Bayern die Rede. Ich war zwar nur zweieinhalb Jahre in München, aber diese Zeit wirkt bis heute nach.“
Sie sind in Mannheim aufgewachsen, es heißt aber, dass Sie schon als Kind Bayern-Fan waren. Wegen Ihres Großonkels „Ossi“ Rohr?
„Natürlich! Er war der Bruder meines Großvaters und ein hervorragender Mittelstürmer. Zusammen mit seinem Trainer Richard Dombi ging er damals von Mannheim nach München, 1932 holten sie die allererste Deutsche Meisterschaft des FC Bayern.“
Im Endspiel gegen Frankfurt hat „Ossi“ das 1:0 gemacht.
„Er hat mir immer erzählt, dass keiner den Elfmeter schießen wollte, auch Kapitän Conny Heidkamp nicht, der ihn zum Punkt geschickt hat: ‚Du machst den rein.‘ Und das hat er, obwohl er beim Schuss ein bisschen in den Boden getreten hat.“
Welche Rolle hat „Ossi“ in Ihrem Leben gespielt?
„Ich bin mit ihm aufgewachsen. Er selbst hatte ja keine Kinder, war immer bei uns dabei. Er hat viel erzählt von seiner Bayern-Zeit, mehr als von seiner ebenfalls sehr erfolgreichen Zeit bei Racing Straßburg. Der Krieg beendete seine Karriere. Am Ende wurde er an der Ostfront angeschossen, war eingekesselt – und ein Bayern-Fan rettete ihn! Ein Pilot erkannte ihn und flog ihn mit einer der letzten Maschinen raus. Diese Geschichte hat er uns immer wieder erzählt.“
Was hat er denn gesagt, als Sie 1972 nach München gingen?
„Er war glücklich. Ich hatte damals einige Angebote, auch vom VfB Stuttgart und dem Hamburger SV. Aber mein Vater und „Ossi“ sagten: ‚Du gehst zu den Bayern, das ist unser Club!‘ Also bin ich nach München, obwohl ich wusste, dass es dort schwierig werden würde. Auf meiner Position spielte Johnny Hansen, ein starker Däne.“
Die Statistik listet nur neun Spiele von Ihnen im FCB-Trikot auf.
„Trotzdem war die Zeit einmalig. Diese Professionalität … Allein zu sehen, wie sich Beckenbauer, Hoeneß, Breitner, und wie sie alle hießen, auf ein Spiel vorbereitet haben … Ich habe so viel gelernt. Leider habe ich mir nach ein paar Monaten das Kreuzband gerissen.“
Das konnte in den 70er Jahren auch das Karriereende bedeuten.
„Die Bayern haben einen sehr guten Spezialisten organisiert, deswegen habe ich diese schwere Verletzung gut überstanden. Er hat die Bänder so gut repariert, dass ich noch mehr als 15 Jahre spielen konnte. Mit einer Einwechslung im Europapokal gegen Atvidaberg (September 1973, d. Red.) kehrte ich auf den Rasen zurück. Ich kann also sagen: An einem Landesmeistercup-Triumph des FC Bayern habe ich mitgewirkt (lacht). Drei Tage später habe ich dann in Hannover sogar von Beginn an gespielt, habe mir aber erst mal weitere Einsätze versaut, weil ich einen Elfmeter verursacht habe. Udo Lattek meinte danach, ich würde zu viele Fouls machen.“
„Diese Professionalität … Allein zu sehen, wie sich Beckenbauer, Hoeneß, Breitner, und wie sie alle hießen, auf ein Spiel vorbereitet haben … Ich habe so viel gelernt.”
Gernot Rohr
Karriere machten Sie ab 1977 in Bordeaux. In zwölf Jahren wurden Sie mit Girondins dreimal Französischer Meister und zweimal Pokalsieger. Warum leben Sie heute noch in der Region?
„Ich habe ja Romanistik studiert. Und ich kannte die Gegend, weil ich früher oft in Cap Ferret Ferien gemacht habe. So fiel es mir leicht, nach Bordeaux zu gehen. Unter Trainer Aimé Jacquet hatten wir in den 80er Jahren eine tolle Mannschaft. Wir haben Titel gewonnen, erreichten zweimal das Halbfinale im Landesmeistercup. Ich habe mich in den zwölf Jahren dort total wohlgefühlt, da lag es nahe, auch nach der Karriere zu bleiben.“
1982 wurden Sie sogar französischer Staatsbürger.
„Meine Mutter war stinksauer! Damals gab es keine doppelte Staatsbürgerschaft, deswegen musste ich meinen deutschen Pass abgeben. Damals waren nur zwei Ausländer pro Team erlaubt. Der Verein wollte Caspar Memering und Dieter Müller verpflichten und hat mich gefragt, ob ich Franzose werden würde. Das habe ich gemacht. Ich wollte unbedingt mit den beiden zusammenspielen – und endlich konnte ich auch wieder Skat spielen (lacht). Inzwischen habe ich übrigens auch wieder einen deutschen Pass.“
Ihr Abschiedsspiel im Juli 1988 war ein Wiedersehen mit dem FCB. Wie kam es dazu?
„Ich habe Uli Hoeneß angerufen und gesagt, dass ich zum Abschied gegen Bayern spielen möchte. Er sagte: ‚Das kostet dich 100.000 D-Mark.‘ Es gab also keinen Freundschaftspreis für mich, in finanziellen Dingen war Uli eisenhart (lacht). Es war dann ein wunderbarer Tag, mit den Nationalhymnen beider Länder, mein Sohn hat den Anstoß gemacht. Im Vorspiel hat Uli sogar mitgekickt, mit meinen Brüdern. Und dann kam das große Spiel, 3:3 vor 20.000 begeisterten Zuschauern.“
Acht Jahre später, 1996, kehrten Sie als Trainer mit Bordeaux nach München zurück, im UEFA-Cup-Finale.
„Das war sehr emotional. Das Olympiastadion, das Wiedersehen mit alten Bekannten, bei Bayern ist kurz vor dem Endspiel auch noch Franz Beckenbauer Trainer geworden. Ich hatte ein junges Team, mit drei außergewöhnlichen Spielern: Zidane, Lizarazu und Dugarry. Leider waren Zidane und Dugarry im Hinspiel in München gesperrt. Es ging 0:2 aus, und im Rückspiel in Bordeaux hat es leider nicht gereicht.“
Lizarazu wurde später beim FC Bayern zur Legende. Warum haben Sie denn nicht auch noch Zidane zum FC Bayern vermittelt?
„Franz hat nach dem Finale angerufen und mich nur nach Lizarazu gefragt (lacht). Ich verstand mich auch nie als Spielervermittler, sondern als „Éducateur“, als Ausbilder. Vielleicht fühle ich mich deswegen in Afrika so wohl. Weil ich dort etwas bewegen kann, auch wenn die Arbeit immer wieder eine Herausforderung ist. Man muss improvisieren können.“
Trotzdem scheint es Ihnen dort zu gefallen.
„Das liegt auch an den Menschen dort. Ich mag ihre positive Art, ihre Lebenskunst. Sie schaffen es, trotz schwieriger Bedingungen Freude am Leben zu haben.“
Wie erleben Sie als Europäer die kulturellen Eigenheiten? Gab es kuriose Erlebnisse?
„Einige! Erst vor Kurzem, bei meinem ersten Spiel mit Benin gegen Ruanda. Da wollte der Ball einfach nicht ins Tor. Plötzlich lief ein Fan auf den Platz, schnappte sich das weiße Handtuch des Torwarts und verschwand damit. Mein Assistent hat mir erklärt, dass uns das Handtuch verhext hat. Und tatsächlich, fünf Minuten später schießen wir den Ausgleich (lacht)! Oder vor zwei Jahren in Nigeria: Da erschien plötzlich der Sportminister mit 40, 50 Journalisten beim Training und wollte mitkicken. Ich war perplex. Mein Assistent meinte, wir müssen ihn mitmachen lassen, sonst sind wir morgen alle weg. Kurzerhand haben wir noch ein Kreisspiel für ihn eingebaut, und alles war gut.“
Am 28. Juni werden Sie 70. Wird die Feier Ihr Leben widerspiegeln?
„Zu Hause in Cap Ferret werde ich ein Essen für Freunde und Familie machen, mit Austern, aber auch mit gutem deutschen Bier und Schwarzwälder Schinken. Ich kann es eigentlich kaum fassen, dass ich schon so alt werde. Ich fühle mich viel jünger.“
Das komplette Interview gibt es in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“:
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