Wenn man einen bayerischen Fußballer schnitzen würde, käme Thomas Müller heraus. Das hat Karl-Heinz Rummenigge einst gesagt. Unser Clubmagazin „51“ hat den langjährigen FCB-Vorstandschef beim Wort genommen. Denn in über 700 Profispielen voller Kerben und Schnitte wird man zur Ikone.
Patronus Bavariae
Martin Reichart streicht mit dem Daumen über Thomas Müllers Schuh und stutzt. „Oh, da seh ich noch was“, murmelt er. Eine Stelle ragt minimal zu hoch aus dem Holz heraus. Eigentlich ist die Figur ja fertig geschnitzt, aber jetzt findet Reichart doch noch Kleinigkeiten, die ihm nicht passen. Mit Schnitzmesser und Schleifpapier arbeitet er ein paar Stellen nach: den Schuh, ein Knopfloch, eine Falte am Jackenärmel. Feine Holzspäne segeln zu Boden. „Ich darf nicht mehr hinschauen, sonst fällt mir immer wieder was Neues auf“, meint er und legt sein Werkzeug zur Seite. Man muss auch wissen, wann man aufhören muss. Nach insgesamt 80 Arbeitsstunden – plus 20 Stunden für das Model aus Plastilin – ist sein Thomas Müller fertig. 40 Zentimeter hoch, geschnitzt aus einem Stück Holz. Eine Ikone für eine Ikone. Da muss natürlich jedes Detail passen. „Das war schon ein besonderer Auftrag“, sagt Reichart, „so was macht man vielleicht einmal im Leben.“
Zwei Wochen zuvor: Wenn man die Werkstatt von Martin Reichart in Hadorf bei Starnberg betritt, hat man das Gefühl, zu Besuch bei Meister Eder zu sein. Man fühlt sich sofort wohl. Wenn die Sonne durchs Fenster scheint, leuchtet das viele Holz im Raum golden. In der Mitte steht ein alter Holzofen, der an kalten Tagen sicher für behagliche Wärme sorgt. Das Handy hat hier keinen Empfang. Reichart steht mit blauer Schürze und Pantoffeln in den Holzspänen. „Das ist mein Reich“, sagt der 55-Jährige. In den Regalen und Vitrinen um ihn herum wimmelt es von geschnitzten Figuren: Schafe, Kamele, Totenschädel, Skelette, Heilige, Bauern, Kruzifixe, eine Büste von König Ludwig II., eine Granatapfelschale, in die eine Miniatur-Schnitzerwerkstatt hineingeschnitzt ist.
Inmitten dieser Fantasiewelt gibt Thomas Müller den Pumuckl. Seit einer Woche lässt der Bayern-Profi Reichart keine Ruhe. Mit einem frech-fröhlichen Grinsen steht er in der Werkstatt auf einem Tischchen. Martin Reichart betrachtet das Modell aus grauem Plastilin kritisch durch seine Brille. „Ich habe das Gefühl, der Mund passt noch nicht“, sagt er und zieht mit einem schmalen Spachtel einen Mundwinkel etwas höher. „Es ist nicht viel, macht aber viel aus“, meint er. Auch am Knie trägt er noch etwas Plastilin ab, um den Oberschenkelmuskel besser anzudeuten. Thomas Müller ist Reichart natürlich ein Begriff, er interessiert sich ja für Fußball. Und Müllers Heimatort Pähl ist von Hadorf auch nur 20 Autominuten entfernt. „Der Müller strahlt was aus“, sagt Reichart, „Selbstbewusstsein, Lockerheit, Witz. Sein Auftreten und seine Mimik sind so markant. Ich hoffe, ich schaffe es, das alles ins Holz zu übertragen.“
Oberammergauer Schule
Als Thomas Müller 1989 geboren wurde, war Reichart mitten in seiner Ausbildung. Er wollte immer nur Schnitzer werden, belegte schon als Schüler Kurse. Später hat er das Handwerk dann in Oberammergau richtig gelernt. Das Dorf ist seit Jahrhunderten weltbekannt für seine Herrgottschnitzer. Drei Jahre lang besuchte Reichart dort die Schnitzschule, drei weitere Jahre lernte er in einer traditionellen Schnitzerei. 1991 machte er sich schließlich selbstständig, baute den alten Kuhstall seines Elternhauses zur Werkstatt um. „Holz ist für mich ein warmes Material, das man schön formen kann“, erklärt er seine Faszination für einen Werkstoff, der für Verwurzelung und Bodenständigkeit steht, aber auch kunstvoll veredelt werden kann. Ein Material wie gemacht für Thomas Müller.
Der Müller in Reicharts Werkstatt wird aus Lindenholz geschnitzt. Lindenholz habe den Vorteil, dass es mit seinen gleichmäßigen Jahresringen „gleichbleibend weich“ sei, erklärt Reichart. Gleichbleibend wie Müllers Karriere: immer auf Top-Niveau, immer unverwüstbar. Als Elfjähriger kam er 2000 in die Jugend des FC Bayern, debütierte 2008 in der Bundesliga und lief inzwischen über 700-mal für die erste Mannschaft auf. Nur noch wenige Spiele fehlen, um Sepp Maier (709) als Rekordspieler des FC Bayern zu überholen.
„Der Müller strahlt was aus: Selbstbewusstsein, Lockerheit, Witz. Ich hoffe, ich schaffe es, das ins Holz zu übertragen.”
Martin Reichart, Schnitzer
Natürlich haben die Jahre Spuren hinterlassen, Kerben und Schnitte, die ihn als Fußballer und Menschen geformt haben und zur Ikone werden ließen. Unvergessen, wie Müller in der 123. Minute des DFB-Pokal-Finals 2014 von Krämpfen geplagt über den halben Platz allein auf das Dortmunder Tor zulief und mit letzter Kraft den Ball über die Linie schob; wie er im „Finale dahoam“ 2012 per Kopf den vermeintlichen 1:0-Siegtreffer erzielte; wie er ein Jahr später endlich den Champions League-Pokal in den Himmel von Wembley streckte. Müllers Statistik spricht für sich: Mit 33 Titeln, davon 32 mit dem FC Bayern, ist er der erfolgreichste deutsche Fußballer aller Zeiten; er ist Rekordmeister, deutscher CL-Rekordtorschütze und Bundesliga-Rekordvorbereiter; 2014 wurde er Weltmeister.
All das kommt jetzt in Martin Reicharts Werkstatt zusammen. Der Schnitzer bearbeitet inzwischen einen Holzblock, den er aus dem Lindenstamm herausgeschnitten hat. Mit einer Papierschablone hat er die groben Umrisse des Modells aufs Holz übertragen und ausgesägt. Jetzt steht der Block auf einer Werkbank, Reichart behaut ihn mit Schnitzeisen und einem Knüpfel, einem runden Holzhammer. Er geht dabei von vorne nach hinten vor, beginnt also mit den Punkten der Figur, die am weitesten herausragen: die Spitze des rechten Schuhs, das rechte Knie, die Jackenzipfel, die Nasenspitze. Mit Zirkel und Winkel nimmt er am Modell Maß und arbeitet sich am Holz bis zur exakten Höhe, Breite und Tiefe des Punktes vor. Die Arbeit erfordert also nicht nur Gefühl und Augenmaß, sondern auch mathematische Genauigkeit. „Wenn man rein nach Gefühl arbeitet, kann man sich sehr schnell vertun“, meint Reichart. „Zum Beispiel die Jackentasche hier: Ich hätte gedacht, die ist viel weiter unten.“ Schlag um Schlag, Span um Span schält der Schnitzer die Figur aus dem Holz. Von der Nasenspitze geht es weiter mit den Wangen, den Ohrläppchen, die anfangs breiten Schnitzeisen werden immer feiner, je mehr er an den Details arbeitet. Bis zu acht Stunden am Tag steht er in der Werkstatt. „Ich habe noch viel Arbeit vor mir“, meint er.
Detailliert bis zur Nasenspitze
Zwei Wochen später steht Müllers Holzfigur als Ebenbild des Plastilin-Modells in der Werkstatt. Reichart hat Ostern durchgearbeitet. „Pumuckl“ Müller spukte ständig in seinem Kopf herum. Einmal saß er abends mit seiner Frau auf dem Sofa, erzählt er, aber im Kopf war er bei Müller. „Ich habe zu meiner Frau gesagt: Wir müssen noch mal runter in die Werkstatt gehen und schauen, ob es passt.“ Auch nachts im Bett drehten sich die Gedanken in seinem Kopf immer wieder um die Figur. Besonders am Mund habe er lange gearbeitet. Wie weit soll er geöffnet sein? Sieht man Zähne? Wie hoch geht der eine Mundwinkel? Auch die Haare – länger oder kürzer? Strubbeliger oder gestylter? – änderte er am Modell immer wieder. Als Vorlage nutzte Reichart viele Bilder, die er an einer Tafel hinter seiner Werkbank angebracht hat. Das Problem war nur: An welchem Müller soll er sich orientieren? „Es gibt so viele Fotos von ihm, jeder hat auch sein eigenes Bild von ihm – und überall schaut er ein bisschen anders aus“, sagt Reichart. Wie ein Fußballer auf dem Rasen musste er Entscheidungen treffen – und lernte Müller dabei neu kennen. Dass er „einen relativ dünnen Hals“ hat und „feine Hände, aber lange Daumen“. Dass Müllers Nasenspitze ein bisschen nach rechts zeigt. „Es war eine Herausforderung“, sagt der Schnitzer, „und es hat Spaß gemacht.“
Wieder eine Woche später fährt Reichart mit dem Auto eine Dreiviertelstunde nach Süden, am Starnberger See entlang und auf halber Strecke an Pähl vorbei bis nach Froschhausen. In dem kleinen Ort wohnt und arbeitet Franz Schindler als Vergolder und Fassmaler, ein Kunsthandwerk, das eng mit der Holzschnitzerei verwoben ist. Reichart und Schindler kennen sich noch aus gemeinsamen Zeiten in Oberammergau. Schon hinter der Eingangstür riecht es nach Farbe. Links geht es ins Wohnhaus, rechts in Schindlers Werkstatt. An der Tür hat seine Frau ein kleines Schild angebracht. „Ich bin im Ruhestand“, steht darauf, aber ihr Mann beachtet das nicht. Franz Schindler wird bald 75, schon länger plagen ihn Schmerzen in der rechten Hand. Die notwendige Operation hat er extra verschoben, für Thomas Müller. „Wenn ich den Pinsel in der Hand habe, spüre ich die Schmerzen nicht“, sagt er und grinst.
Technik aus dem Mittelalter
Auch Schindlers Werkstatt ist ein Sammelsurium. Überall sieht man, woran er gerade arbeitet: Faschingsmasken, barocke Engel, Krippen- und Heiligenfiguren. In der hinteren Ecke stehen raumhohe Regale voller Farben, auf dem Arbeitstisch liegt ein Berg Pinsel. Daneben steht Thomas Müller in ganzer Pracht. „Wahnsinn, wie die Figur jetzt wirkt“, meint Reichart anerkennend. Auch Schindler hat sich an Fotos orientiert. Haare (braun), Augen (blaugrün), Ehering (silbern), alles muss farblich originalgetreu sein und natürlich wirken.
„Ich weiß noch, wie wir uns nach seinem ersten Spiel gefragt haben: Was will denn der mit seinen Spatznwadln?”
Franz Schindler, Fassmaler
Prozess sei aber natürlich nicht anders als bei seinen anderen Projekten, sagt er: „Die Technik ist immer noch wie im Mittelalter.“ Mit Knochenleim und Steinkreide hat er die Holzfigur mehrmals grundiert. Nach Trocknen und Abschleifen folgte das Anmalen. Schindler beginnt immer mit dem Gesicht, den Händen und Füßen, dann folgt der Rest der Figur von oben nach unten. Am Ende hat er noch eine Wachspatina aufgetragen und alles poliert. Schindler ist routiniert in den Abläufen, doch als er das Trikot unter dem Janker bemalen wollte, hat er gestutzt: Rot? „Das geht doch nicht unter einer Tracht“, findet er. Normalerweise trägt man ein weißes Hemd. Aber er ließ sich überzeugen und ist zufrieden mit dem Ergebnis: „Jetzt gefällt es mir auch so.“
Rot ist ja sowieso Schindlers Farbe. Denn er ist leidenschaftlicher Bayern-Fan und schätzt Thomas Müller, auch weil er Ecken und Kanten zeigt. „Thomas geht immer vor die Kameras und erklärt, warum man verloren oder gewonnen hat. Das gefällt mir“, sagt er und schmunzelt. „Ich weiß noch, wie wir uns nach dem ersten Spiel von Thomas gefragt haben: Was will denn der mit seinen Spatznwadln?“ Und jetzt ist Müller eine Ikone.
Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Clubmagazins „51“. Hier erschien er in einer leicht gekürzten Fassung:
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