Bereits als Kind jagte Gitta Lettl dem Ball nach - an der Seite der Brüder Beckenbauer. Giesing war ein gutes Pflaster für Talente: Als Frauenfußball verboten war, schrieb sie mit der inoffiziellen Nationalelf ihre eigene Geschichte. Die Story aus dem FCB-Klubmagazin Säbener 51 jetzt auf fcbayern.com lesen.
Einmal hing die kleine Gitta am Zaun fest, saublöd, wie sie sich heute, gut 70 Jahre später, mit einem Schmunzeln erinnert: Sie hatte drübersteigen wollen, zum Fußballplatz nebenan, doch ihr Kleid verfing sich in den Maschen, und letztlich musste sie ein Passant befreien. Ihr Gewand nähte die Mutter einer Freundin schnell wieder zusammen, ehe die eigene Mama schimpfen konnte. Glück im Unglück - nur zum Fußballspielen kam Gitta an diesem Tag leider nicht. Ausnahmsweise. Ärgerlich.
„Ich war a bisserl eine Wilde“
Gitta Lettl erinnert sich gern an diese Zeit zurück: München, kurz nach dem Krieg, alle waren arm, doch keiner litt unter den Entbehrungen, es gab keinen Neid, sondern nur nachbarschaftliches Miteinander - und Kindern stand die Welt offen, als wäre sie ein einziger Abenteuerspielplatz. In diese Zeit wurde sie hineingeboren, in der Klinik in der Maistraße, in dieser Zeit wuchs sie auf, zwischen Giesings Ruinen - im gleichen Haus wie Franz und Walter Beckenbauer, mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrer sieben Jahre älteren Schwester, ein Stockwerk unter dem Brüderpaar, mit dem sie sich nach der Schule regelmäßig zum Spielen traf. Mit Puppen hatte sie es nie: „Ich war a bisserl eine Wilde.“ Ihre Liebe galt dem Fußball. Als einziges Mädchen spielte sie im Team der Straßenkicker der Beckenbauers in der damaligen Bonifatiusstraße mit - es war nachweislich ein gutes Pflaster für Talente.
Freilich schimpfte die Mama
Meistens spielten sie einfach auf der Straße, Autos fuhren keine, im Winter liefen sie vor der Haustür Schlittschuh. Hin und wieder aber kraxelten sie auch über den Zaun zum Fußballplatz gegenüber - jenen Zaun, an dem Gitta einmal ungeschickt hängen blieb. Hätte das Kleid nicht genäht werden können, wäre es eine Katastrophe gewesen, „denn wir hatten ja nichts“, erzählt sie. Auch die Schuhe litten, wenn sie kickten, freilich schimpfte die Mama da immer wieder, die Schuhe waren ja nicht geeignet - aber die Kinder waren nicht auf den Kopf gefallen: Hing eine Sohle wieder einmal weg, rannten sie zum Schuster am Ende der Straße, der für sie schnell und heimlich Ausbesserungen vornahm, ehe es wieder nach Hause ging. Nur wenn es spät abends wurde und er schon geschlossen hatte, musste man daheim doch Abbitte leisten. Allerdings sprach Gittas Mama nie ein Verbot aus. Sie ließ die Tochter laufen, immer dem Ball nach, gemeinsam mit Walter und Franz.
„Geht’s raus und spielt’s Fußball!“
Die drei verabredeten sich oft einfach am Treppengeländer, es waren unkomplizierte Zeiten mit einer funktionierenden Hausgemeinschaft, in der man sich aushalf, wenn jemand Zucker brauchte oder ein Ei, in der jeder dem anderen etwas abgab, wenn er mal etwas zu viel hatte. Franz erzählt bis heute, wie schaurig ihm der Keller vorgekommen war, in den er immer geschickt wurde, um Kohlen zu holen. Ja, erinnert sich auch Gitta, es war unheimlich dort: Das Haus stand immer offen, die Gewölbe waren verwinkelt und dunkel, und manchmal wusste man nicht, wen man da antraf. Aber sie hat noch eine andere Assoziation: „Der Keller roch gut; irgendwie heimelig.“ So nimmt jeder seine eigenen Erinnerungen mit - und die meiste Zeit waren sie sowieso draußen unterwegs. „Gehma naus, spuima, haben wir immer gesagt“, so Gitta Lettl. Später soll Franz als Trainer seinen Spielern gesagt -haben: „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ Schöne, weise Giesinger Philosophie.
Im Dantestadion vom Nationaltrainer entdeckt
Franz war ein Naturtalent, das merkten sie alle bald, „ein echter Ballkünstler“, schwärmt Gitta noch heute - doch auch sie spielte so gut, dass sich keiner um das Verbot des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) scherte, Frauen an den Ball zu lassen. Sie trainierte mit den Knaben mit, weil die Trainer sie schätzten, und im März 1957 begleitete sie einen Bekannten zu einem inoffiziellen Länderspiel im Dantestadion. Er stellte sie dem Trainer Josef Floritz vor, der dem 15-jährigen Mädchen einen Ball zuwarf. „Er hat dann gewartet, was ich damit mache - und ich habe einfach losgelegt.“ Floritz sagte sofort: „Beim nächsten Länderspiel bist du dabei!“ Bald darauf spielte Gitta Lettl nicht mehr auf der Straße oder Wiese gegen Münchner Burschen - sondern vor mehreren Tausend Zuschauern in großen Stadien gegen Österreicherinnen, Niederländerinnen und Engländerinnen: „Erst war ich nervös, aber es hat mir schnell viel Spaß gemacht.“
Der Reiz des Verbotenen
Trotz oder gerade wegen des unsinnigen Verbots des DFB strömten die Menschen damals in die Stadien, wenn Frauen am Ball waren; bis zu 18.000 sahen zu, während unterklassige Männerteams höchstens ein paar Hundert animierten. „Die kamen aus Sensationslust, die wollten schauen, wie man sich das vorstellen kann“, meint Gitta Lettl. „Und wenn was verboten ist, reizt es ja nur noch mehr.“ Floritz organisierte mit seiner Frau alles bis ins Detail, gespielt wurde wegen des Verbots nur in städtischen Stadien, und einmal erhielt Münchens damaliger Oberbürgermeister Thomas Wimmer sogar eine Protestnote des DFB, weil er das Dantestadion geöffnet hatte. „Aber wir waren halt irgendwie eine Schau“, so Gitta Lettl, die zum Spektakel als Jüngste und Kleinste mit einer sagenhaften Torquote einiges beitrug.
Torriecher wie Gerd Müller?
Lettl, damals noch unter ihrem Geburtsnamen Schmid, lief immer als Mittelstürmerin auf - und traf und traf, obwohl sie von ihren Kolleginnen geschnitten wurde. Die anderen waren ein verschworener Haufen, das Gros des Kaders stammte aus dem Ruhrgebiet, wo sie auch miteinander spielten, wenn keine Länderspiele angesetzt waren. Für sie war Gitta ein Eindringling, als Münchner Kindl der Liebling des Trainers, der sie zu den Spielen in seinem Auto mitnahm: „Ich kann das sogar verstehen, dass sie so empfunden haben, aber ich hab dann einfach das Beste draus gemacht.“ Da Gitta keine Zuspiele bekam, lauerte sie auf Abpraller oder organisierte sich den Ball im Mittelfeld auf eigene Faust. „Ich stand irgendwie immer richtig, das war mein Glück - sonst wäre ich nicht aufgestellt worden“, sagt sie. „Vielleicht hatte ich einen Torriecher wie Gerd Müller, keine Ahnung.“
44 Tore in 40 Spielen ist tatsächlich eine Quote, die an den „Bomber“ erinnert - zumal, wenn man einbezieht, dass die Frauen nur zweimal 35 Minuten spielten und Gitta Lettl eine Mittelstürmerin war, die ihre Treffer nicht nur gegen das andere Team, sondern auch die eigenen Kolleginnen erzielen musste. Gleich zum Einstand beim 10:1 gegen die Niederlande war sie drei Mal erfolgreich, gegen Österreich traf sie in einem Spiel fünf Mal – aber nur einmal, als sie den Ball gegen England zum 1:1-Endstand eingeschoben hatte, beglückwünschten sie ihre Teamgefährtinnen. Diese Partie ist für Lettl bis heute der Höhepunkt, denn auf der Insel war der Frauenfußball schon weiter, die Qualität des Gegners also höher. Gleich nach dem ersten Angriff lagen die Deutschen 0:1 zurück „und dass wir dann doch dagegengehalten haben, war der Ober-Clou“. Bert Trautmann, der legendäre Torwart von Manchester City, hatte als Schirmherr den Anstoß ausgeführt, Lettl ließ ihn damals im Hotel auf einem Bierdeckel unterschreiben, als Souvenir.
Unterschriften auf Bierdeckeln
Überhaupt hat sie alles fein säuberlich dokumentiert, hat Zeitungsartikel, Fotos, Bierdeckel und Postkarten in Alben geklebt. Auf den Bierdeckeln finden sich die Unterschriften vom eigenen Team wie der Gegnerinnen, denn der Kreis im Frauenfußball war klein, und es bildeten sich Freundschaften, über Grenzen hinweg. Floritz organisierte auch Turniere am Gardasee in Italien oder in Straßburg in Frankreich - „für mich war das alles was Besonderes, man kam ja sonst nirgendwohin“. Glück hatte sie in der Hinsicht auch mit ihrem Arbeitgeber; zu dieser Zeit war sie in der Buchhaltung einer Drahtmatratzenfabrik in der Humboldtstraße unterhalb des Giesinger Bergs angestellt, und ihr Chef unterstützte den Frauenfußball. So konnte sie freitagmittags zum Ehepaar Floritz ins Auto steigen, sonst hätte sie auch am Samstag noch arbeiten müssen. Meistens wurden immer gleich zwei Spiele an einem Wochenende angesetzt, damit sich der Aufwand für alle auch wirklich rentierte.
„Franzi, kennst mi noch?“
Franz’ Weg hat Gitta stets verfolgt, natürlich, obwohl der Kontakt im Laufe der Zeit abgerissen ist, nachdem sie alle aus ihrer Straße weggezogen sind. Sie stand im Grünwalder Stadion auf der Tribüne, als er seine ersten Schritte auf die große Bühne machte, und als er später mit den Bayern und der Nationalmannschaft Triumphe feierte, war sie am Fernseher dabei. Nie hat sie sich gedacht, wie ungerecht die Welt doch ist, wie viele Möglichkeiten Männern offenstehen und wie wenige Frauen, gerade zu ihrer Zeit. „Das ist einfach so, ich bin mit meinem Leben mehr als glücklich“, sagt sie. Auch sie hat die Welt gesehen, bereiste mit ihrer Partnerin unter anderem Nord- und Südamerika, Namibia, Indien und den Jemen - und vor ein paar Jahren lief sie Franz auf den Salzburger Festspielen zufällig über den Weg. „Franzi, kennst mi noch?“, fragte sie ihn, und er erinnerte sich sofort: „Ja, freilich, Gitta, wie geht’s dir?“ Er wurde dann aber gleich wieder von jemand anderem in Beschlag genommen, so ist das bei ihm halt, sie versteht das, vielleicht ergibt sich ja irgendwann noch einmal ein Treffen in Ruhe, auch gerne mit Walter, das würde sie freuen, sagt sie.
Sie hätten sich sicherlich viel zu erzählen; wie sie damals im Wirtshaus nebenan Kegel aufgestellt haben, um ein paar Pfennige zu verdienen, wie sie im November mit selbstgebastelten Bauchläden Grabschmuck verkauft haben, wie damals eine Mark für sie alle noch viel Geld gewesen ist - und sie dennoch reich waren, in ihrer kindlichen, überschaubaren Welt. „Wir haben unten auf der Straße Fußball gespielt, bis die Eltern nach draußen gerufen haben, dass das Essen fertig ist“, erzählt Gitta Lettl. „Dann sind alle heim. Und jeder wusste: Morgen spielen wir weiter.“ Franz Beckenbauer wurde weltweit zum „Kaiser“, und auch Gitta Lettl schrieb Geschichte. Auf ihre Art: fern des Rampenlichts, aber als die heimliche „Kaiserin“ von Giesing - eine aus dem Hause Beckenbauer.
In der Januar-Ausgabe des Mitgliedermagazins 51 gibt es unter anderem ein Interview mit Leon Goretzka:
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