Seit Mitte September kann man Gerd Müller auf dem Weg zur Allianz Arena nicht mehr übersehen, sein stolzes Denkmal ist ein neuer Blickfang bei den Heimspielen des FC Bayern. Uli Hoeneß sagte bei der Einweihung in seiner warmherzigen Rede: „Gerd war die beste Nummer neun, die es wahrscheinlich je auf der Welt gegeben hat.“ Womit er einen kühnen Steilpass aus der Vergangenheit in die Gegenwart des deutschen Rekordmeisters geschlagen hatte: Was bedeutet Münchens neuestes Denkmal eigentlich für den, der aktuell im Trikot des FC Bayern die Nummer neun trägt?
Es ist ein regnerischer Montag, eine gute Woche nach der Einweihung der Gerd-Müller-Statue. Die Feststellung, das Wetter sei heute nach wochenlangem Sonnenschein sehr britisch, ist wie ein Abstauber vor dem leeren Tor: muss man machen. Harry Kane, Neuzugang von den Tottenham Hotspurs aus London, stapft nach einer Extraschicht vom Trainingsplatz in die Kabine, diesmal hat er noch ein paar Videos für Marketingaktivitäten abgedreht, und wieder war so gut wie jeder Schuss ein Treffer: Ein Video-Assistent hatte Kane Ball um Ball zugeworfen, und er hatte munter volley abgenommen, um eine Zielscheibe im Kreuzeck anzuvisieren. Auftrag treffsicher erledigt, wie immer.
Wie fühlt es sich an, wenn draußen die Statue von Gerd Müller einen Schatten auf das Stadion wirft, in dem Harry Kane drinnen mit diesem doch recht gigantischen Erbe im Kreuz seinem Job nachgeht – mehr Druck ist eigentlich nicht möglich, oder? Mal abgesehen von der höchsten Ablöse, die der FC Bayern je bezahlt hat? Harry Kane lacht. „Ganz ehrlich“, sagt er, „den größten Druck mache ich mir selber: Ich will etwas erreichen.“ Die Tore von Gerd Müller habe er vor einiger Zeit auf YouTube studiert, erzählt er weiter. „Ich wollte herausfinden, wie er war und wie er gespielt hat. Er war ein unglaublicher Torjäger und nach allem, was ich höre, vor allem auch ein unglaublicher Mensch. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, in seine Fußstapfen zu treten.“
„Den größten Druck mache ich mir selber: Ich will etwas erreichen.”
Harry Kane
Die Fans sind ein besonderer Antrieb, das waren sie immer, sagt Kane. Was macht einen großen Spieler aus, wie definiert man sich? Kane spricht oft, wie er spielt: geradlinig und zielgerichtet. Auch bei solchen Fragen kommt er wie vor dem gegnerischen Tor ohne Umschweife zur Sache – und auf einen ganz ursprünglichen, gemeinsamen Nenner. Er selber, sagt er, fühle sich bis heute „wie ein kickender Fan – einfach weil ich diesen Sport so liebe“. Vielleicht ist das schon das Geheimnis, warum es ihm offensichtlich leichter fällt als anderen, vor dem Kasten cool zu bleiben: Wenn man dem Ball so leidenschaftlich wie ein Fan hinterherjagt, kommt ein Thema wie Druck gar nicht auf. Die Lust auf Tore erlischt in ihm nie, sagt er, „Assists sind auch wichtig, und über allem steht immer der gemeinsame Erfolg, der Sieg fürs Team – aber dieser Adrenalinstoß nach einem Tor lässt dich immer weitermachen“.
Harry Kane, der gefühlt seit Anbeginn der Zeit für Tottenham in der Premier League am Ball war, begleitet die Frage mehr als anderen Neuverpflichtungen, wie schnell man sich heimisch fühlen kann in einer neuen Umgebung. Der FC Bayern legt viel Wert auf seine Identität, und Fußballer aus der ganzen Welt konnten sich dem Flair dieses von Familiengefühl und Folklore geprägten Clubs selten, im Grunde nie, entziehen – viele blieben weitaus länger, als sie ursprünglich geplant hatten.
„Dieser Adrenalinstoß nach einem Tor lässt dich immer weitermachen.”
Harry Kane
Kane absolvierte das traditionelle Fotoshooting in Lederhosen mit glaubhafter Freude, und natürlich ließ es sich Thomas Müller nicht nehmen, ihm unter anderem zu demonstrieren, dass man in Bayern eine Flasche mit dem Kronkorken der nächsten öffnet. Kane muss im Gespräch im Nieselregen am Trainingsgelände laut lachen, als er auf Müller angesprochen wird. „Thomas ist ein fantastischer Typ, der den FC Bayern lebt – er hat diesen besonderen Hunger, er will immer alles, gleichzeitig hat er Spaß an dem, was er tut. Wir werden beide alles geben, um mit dem FC Bayern erfolgreich zu sein.“
Als Franck Ribéry einst aus Frankreich wechselte, hing über Wochen ein mehrere Stockwerke hohes Plakat am Odeonsplatz im Herzen von München. „Bayern hat wieder einen König“, stand unter dem Foto zu lesen, das den Offensivwirbler im Monarchengewand abbildete. In England bekam Prince Harry 2018 den Adelstitel „Duke of Sussex“ verliehen – der „Prinz Harry“ von München hat hier hingegen das Zeug dazu, zum „Duke of Success“ zu werden, zum Lord, zum Vater des Erfolges. Wer weiß? Vielleicht bauen sie ihm in München ja am Ende auch eine Statue. Uli Hoeneß wurde bei der Einweihung des Gerd-Müller-Denkmals übrigens noch auf sein Zitat mit der besten Nummer neun angesprochen: Wie Kane das wohl finde? Der Ehrenpräsident grinste schelmisch: „Jetzt ist Harry gerade mal ein paar Wochen da – wenn er in drei Jahren auch so viele Tore geschossen hat, unterhalten wir uns noch mal. Ich traue diesem Typen alles zu.“
© Bilder: Julian Baumann, Simon Mellar/Tom Kieslich
Das ausführliche Porträt gibt es in der Oktober-Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“:
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