Gemeinsam mit Franz Beckenbauer waren Uli Hoeneß, Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge Teil der bis heute erfolgreichsten Bayern-Generation. Der „Kaiser“ war für sie Anführer, Vorbild, aber vor allem Freund. Im Interview mit dem Club-Magazin „51“ blicken die drei auf das Leben von Franz Beckenbauer zurück.
Das Interview mit Paul Breitner, Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge
Wie geht es Ihnen mit etwas Abstand von der Todesnachricht von Franz Beckenbauer?
Uli Hoeneß: „Ich werde nie vergessen, wie mein Telefon klingelte. Heidi Beckenbauer war dran, um es mir mitzuteilen, und dann habe ich gesagt: ‚Mein Beileid, aber ich kann jetzt leider nicht weitersprechen. Ich rufe dich morgen zurück.‘ Wir wussten zwar alle, dass es um Franz nicht gut stand, aber dass es dann so schnell ging, war ein furchtbarer Schock.“
Karl-Heinz Rummenigge: „Wir drei haben ihn regelmäßig in Salzburg besucht, mit ihm gegessen und über alte Zeiten gesprochen. Man hat immer das Blitzen in seinen Augen gesehen, es hat ihm gutgetan. Eigentlich hatten wir im Herbst wieder zu ihm gewollt, aber leider ging es da schon nicht mehr. Als dann der Moment kam … puh … das zieht einem den Boden weg. Wir hätten uns gerne noch von ihm verabschieden wollen, aber leider ist uns da am Ende die Zeit davongelaufen.“
Paul Breitner: „Als wir das letzte Mal bei ihm waren, hatten wir gehofft, dass wir diese Besuche schon noch ein paarmal weiterführen werden. Es sollte nicht sein. Franz hinterlässt eine Leere, die werden wir immer spüren. Es gibt den Spruch, du sollst über Verstorbene nichts Schlechtes sagen – uns würde sowieso nichts einfallen.“
Wie tröstlich ist der Gedanke, dass Beckenbauer immer daran geglaubt hat, dass der Tod nur eine Etappe ist?
PB: „Wenn er daran geglaubt hat, ist es sicher ein schöner, tröstlicher Gedanke.“
KHR: „Er hat uns erzählt, dass seiner Überzeugung nach die Seele nach dem Tod wandert. Wohin, das wusste er selbst nicht – aber mir gefällt diese Idee, dass er weiter bei uns ist.“
UH: „Franz war ein relativ gläubiger Mensch und hat im Glauben gelebt. Wir haben über dieses Thema nicht häufig gesprochen, das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Dass er nicht mehr da sein soll, ist eine schwere Vorstellung. Für mich lebt er in der Erinnerung weiter, das geht uns allen drei so und vielen anderen Menschen auch. Dadurch bleibt er.“
Was haben Sie von ihm gelernt?
UH: „Beim Franz haben ja immer alle alles mit seinem Talent begründet, aber diese Reduzierung trifft es nicht. Er war schnell, kopfballstark, zweikampfstark – daran hat er jeden Tag gearbeitet. Und wenn wir über den Ursprung unseres ‚Mia san mia‘ reden, landen wir bei ihm: Franz hat dieses Selbstverständnis beim FC Bayern begründet, und zwar nicht, weil ständig in irgendwelchen Schriften darüber reflektiert wurde, sondern weil er es durch seine Art vorgelebt hat, wie er auf und neben dem Platz agiert und als Vorbild immer alles gegeben hat – ohne große Worte darüber zu verlieren. Diese Eigenschaften kennzeichnen den FC Bayern seit über 50 Jahren. Franz verkörperte das ‚Mia san mia‘ als Erster, und das ist auch die Verpflichtung aller weiteren Bayern-Generationen: immer an sich glauben, stark sein und gleichzeitig bodenständig, immer gewinnen wollen – und sich treu bleiben.“
PB: „Der Franz wollte immer gewinnen, er musste gewinnen. Sein Immer-gewinnen-Wollen ist heute das Zentrum des ‚Mia san mia‘. Mit Franz kam in diesen Verein das Bewusstsein, dass man mit seiner Vertragsunterschrift ab sofort jedes Spiel gewinnen muss – denn da draußen auf dem Platz ist einer, der lebt das vor. Wenn wir in der 70., 80. Minute hinten lagen, ist er nicht mehr geschwebt. Dann hat er das Auf-Teufel-komm-raus-gewinnen-Müssen ausgepackt. Ich konnte als 18-Jähriger neben ihm lernen, wie ein Spiel funktioniert, habe ihn studiert, wie er allein durch seine Bewegungen alles organisierte. Und ich habe von ihm gelernt, wie man Menschen anführt: nicht durch Blabla und scheinheiliges Schulterklopfen, sondern indem du in schwierigen Situationen vorangehst. Wenn alle glauben, hier ist Ende, musst du noch mal drei, vier Sprints reinhauen. So bringst du die anderen ohne Theater dazu, dass sie mitziehen. Und dass du dich am besten selbst in die Pflicht nimmst und erst mit dir hart ins Gericht gehst, bevor du die anderen anfährst.“
KHR: „Vor dem ersten Training habe ich mich vorgestellt: ‚Herr Beckenbauer, ich bin neu hier und heiße Karl-Heinz Rummenigge.‘ Er meinte nur: ‚Ich bin der Franz.‘ In der ersten Zeit habe ich nur geschaut und zugehört wie ein Lehrjunge. Ich musste einordnen, was um mich herum alles passiert, und ich habe von Franz gelernt, wie man es anderen leicht machen kann, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden.“
Für Beckenbauer waren alle Menschen gleich.
UH: „Franz hat nie vergessen, wo er herkommt. Er war auch kein Typ, der nach oben gebuckelt und nach unten getreten hat – sondern umgekehrt. Die kleinen Leute, die hat er verteidigt, und die Großen hat er attackiert. Wenn jemand in Schwierigkeiten war, war er der Erste, der geholfen hat. Als Gerd Müller aus Amerika zurückkam und Unterstützung brauchte, sagte Franz zu mir: ‚Uli, wir müssen ihm helfen.‘ Dass wir Gerd wieder auf die Beine gestellt haben, war ein Verdienst von Franz, der die Initiative ergriffen hat.“
PB: „Für mich ist Franz das erste und bis heute beste Beispiel, was ein wirklich Großer ist. Ein wirklich Großer lässt nicht heraushängen, dass er ein Großer ist. Das ist im Übrigen auch etwas, was er beim FC Bayern implementiert hat: Du musst hier Fähigkeiten haben und dir dieser Fähigkeiten bewusst sein. Aber es geht um den FC Bayern – und darum, zu gewinnen. Wenn du hier spielst, hast du es nicht mehr nötig, dich wichtig zu machen. Sondern dann geht es nur noch darum, alles zu geben, was du hast. Das hat der Franz vorgelebt, indem er als der Größte uns gegenüber nie gespielt hat mit seiner Größe.“
UH: „Franz hatte eine gewisse Lässigkeit, ein unverschämtes Talent, aber das war gepaart mit ungeheurem Fleiß. Die Leute haben immer gedacht, na ja, dem fliegt alles zu. Dabei war Franz abends immer der Letzte, der die Säbener Straße verlassen hat, nachdem er sich von unserem Masseur Josip Saric noch lange massieren ließ, damals mit Seife. Er hat seinen Körper gepflegt, deswegen hat er so lange Höchstleistungen bringen können.“
Wie haben Sie die Aura erlebt, die viele bei Beckenbauer wahrgenommen haben?
PB: „Wir haben miteinander Fußball gespielt, uns miteinander in den Dreck gehauen – wir haben uns keine Gedanken gemacht über eine Aura. Aber natürlich war auch bei uns drei immer Ehrfurcht da, immer Respekt. Für uns war er der große Fußballer – und ein Mensch, an den wir uns herangetastet haben. Es entstand ein gegenseitiges Verständnis, eine Akzeptanz. Wir hatten auch mal den einen oder anderen Streit, aber der hat unsere Beziehung nie belasten können.“
KHR: „Franz Beckenbauer ist ein Unikat. Es gibt niemand Vergleichbaren. Heute würde man sagen: Er war divers – weil er für alle stand. Franz war global und divers. Er ist in der Nachkriegszeit groß geworden und war der beste Straßenfußballer, der je in Deutschland geboren wurde. Was er aus allem gemacht hat, was ihm das Leben zugespielt hat, ist einzigartig. Auch nach seiner aktiven Karriere gelang ihm alles, speziell 2006, als er Deutschland die WM ins Land geholt hat. Das war seine größte Leistung.“
UH: „Es gab ja zwei Franz Beckenbauer. Den, den wir erlebt haben, als Mitspieler, als Kamerad, als Freund, später als Präsidiumskollegen. Er blieb immer der Bursche, der in Giesing aufgewachsen, in die Welt hinausgegangen ist und dort jeden als seinesgleichen betrachtet hat. Wenn man aber mit ihm irgendwo auftauchte, war überall diese Ehrfurcht zu spüren: Der Beckenbauer ist da, der Beckenbauer! Und das hat dazu geführt, dass manche diese Aura um ihn sahen. Auf der ganzen Welt wurde er hofiert und respektiert, das hat Deutschland diese einzigartige WM 2006 beschert, und das war der andere Franz Beckenbauer, der zwar identisch war mit dem, den wir kannten – nur eben aus einem anderen Blickwinkel. Er hat sich nie verändert, das war eine Gabe.“
Wie war er im Training?
KHR: „Am Anfang jeder Saison hatten wir immer Cooper-Test: In zwölf Minuten mindestens 2.800 Meter laufen. Für Jupp Kapellmann brauchten wir ein Fernrohr, der schaffte 3.600. Gerd Müller war nach 1.800 Metern reif für die Sauerstoffflasche, und Franz hat immer versucht, ihn mitzuziehen. Franz war topfit, kein Milligramm Übergewicht, das kam nicht von ungefähr, er war extrem professionell. Ich muss zu Uli ergänzen, dass er aus Höflichkeit der Letzte in der Kabine war: Er hat immer gewartet, bis alle anderen massiert waren.“
Konnte man es ihm als Mitspieler überhaupt recht machen?
UH: „Druck hat er schon gemacht …“
PB: „Das Zweitschlimmste für Franz war während eines Spiels, dass wir es vielleicht verlieren könnten. Daher haben wir nicht oft verloren, weil er sich immer dagegengestemmt hat. Aber was das Schlimmste für ihn war: ein eigener Fehler. Ein Eigentor, ein schlechtes Zuspiel, irgendein technischer Fauxpas, der ihm unterlaufen ist: Das war für ihn unerträglich. Er hat die Vorstellung gehabt, er müsste 90 Minuten ein perfektes Spiel spielen. Ohne den kleinsten Fehler. Und wenn was nicht ganz geklappt hat … Ich habe aus nächster Nähe gehört, wie er mit sich selber gemotzt hat. Da war er nicht auf 180, sondern auf 1.800.“
KHR: „Er wollte gewinnen. Franz hatte eine brasilianische Technik mit einer deutschen Denke – eine wunderbare Kombination! Er hat sich nicht an sich selbst berauscht, sondern die Qualität, die ihm der liebe Gott in die Wiege gelegt hat, mit Effizienz gepaart. Er spazierte durchs Mittelfeld, keiner konnte ihn stoppen, und sobald er 30 Meter vor dem gegnerischen Tor war, herrschte Alarmstufe Rot, weil er mit Gerd einen Doppelpass gespielt hat, den es in dieser Perfektion bis heute nicht mehr gibt. Manchmal nicht nur einmal, sondern zwei-, dreimal, tack, tack, tack. Und dann stand Gerd vorm Tor und hat ihn reingeschoben.“
Es gibt den berühmten Moment nach dem WM-Finale 1990, als Beckenbauer allein über den Rasen spaziert. Wie haben Sie das gesehen?
PB: „Als Sportler erlebst du im absoluten Erfolg Glücksmomente: „Baff!“ Ich habe da ein Lieblingswort: Verzückungsspitzen. Wenn Usain Bolt als Erster durchs Ziel läuft oder ein Skifahrer unten die „1“ auf der Anzeige aufleuchten sieht und weiß, er ist Olympiasieger. Oder wenn der Schiedsrichter das WM-Finale abpfeift – ich wäre vor Freude fast explodiert. Das dauert 15, 20 Sekunden, dann wird dir klar, was du gerade erreicht hast. So habe ich den Franz damals auf dem Rasen wahrgenommen. Er hat den Triumph bewusst der Mannschaft überlassen und alles um sich herum aufgesaugt, um es später in seinem Kopf abrufen zu können. Ich denke, das war einer der perfekten Momente seines Lebens für ihn.“
KHR: „Es gibt Trainertypen, die geradezu in den Trubel hineinhechten. Franz steht für das Gegenteil. Er ist da im Halbdunkel für sich allein über den Platz gewandelt, und ich glaube auch, in dem Moment hatte er die tiefsten Glücksgefühle in sich. Er hat es allein für sich genossen. 1986 in Mexiko war er froh, dass wir überhaupt ins Finale gekommen sind. Als er es 1990 geschafft hatte, hatte er es auch sich selbst wieder einmal bewiesen. Es ist einer der erhabensten, stilvollsten Momente der deutschen Fußballgeschichte.“
UH: „Ich glaube, dieser Moment ist auch ein Beleg für Franz’ Ehrgeiz. Er hatte als Spieler alles gewonnen und ist dann als Teamchef ein Risiko für sein Image eingegangen. 1986 war für ihn nicht das perfekte Turnier. 1990 war er dann mit sich im Reinen. Er hatte sich selbst gezeigt: Ich kann auch Trainer. Diesen Moment der Stille in der absoluten Perfektion in dieser einzigartigen Nacht von Rom gönne ich ihm auf ewig von Herzen. Ein Bild für die Götter.“
KHR: „Vier Tage nach dem Finale war ich mit ihm bei einem Benefizspiel: Die Leute hätten sich aus Dankbarkeit am liebsten vor ihm auf die Knie geworfen. Da dachte ich, jetzt kann er endgültig übers Wasser laufen (schmunzelt).“
Was bleibt von Beckenbauer bei Ihnen hängen?
UH: „Ich ertappe mich dabei, dass ich sehr oft an ihn denke. Selten hat mich ein Tod von einem Freund so beschäftigt wie der von Franz, weil er für uns alle so viel gegeben hat, für diesen Verein, den wir alle lieben. Und wie Paul gesagt hat, am Anfang gab es bei ihm sicher eine gewisse Skepsis gegenüber uns Jüngeren, die jetzt den Verein umkrempeln wollen. Aber wir sind Freunde geworden, er hat unsere Nähe und unsere Gespräche gesucht, hat oft angerufen. Er wird mir auf ewig einfach ein unvergleichbarer Mensch bleiben.“
KHR: „Franz war einfach ein guter Typ, ein Mensch, mit dem man gerne zusammen sein wollte. Das wird immer bleiben. Ich bin auch Wochen nach seinem Tod noch bedrückt. Das habe ich so noch nie erlebt.“
PB: „Bei mir wird, solange ich lebe, große, große Dankbarkeit bleiben. Der Franz hat federführend mit Gerd Müller meinen Lebensweg in einer Art und Weise mitbestimmt, dass daraus eine Lebensautobahn geworden ist. Es war ein Weg, der nicht der schlechteste war. Unvergesslich.“
© Bilder: Magdalena Jooss
Das vollständige Interview gibt es in der neuesten Ausgabe des FC Bayern-Club-Magazin „51“ zu lesen:
Themen dieses Artikels