Anja Pfluger weiß, was es heißt, nie aufzugeben – zwei Mal erkrankte sie an Leukämie. Der Fußball war ihr Antrieb. Vor genau einem Jahr hat das Mitgliedermagazin „51“ mit der Kapitänin unserer 2. Frauen-Mannschaft gesprochen - über die Bedeutung des Fußball, ihr Leben und ihre Mentalität, niemals aufzugeben. (Bilder: Daniel Delang)
Anja Pfluger, eine Kämpferin
Nach dem Spiel steht Anja Pfluger noch lange am Mittelkreis. Der Rest ihrer Mannschaft ist längst in der Kabine verschwunden, doch die Kapitänin analysiert mit der Teamkoordinatorin Andrea Ernst die Partie. Im Hintergrund leuchtet das Endergebnis auf der Anzeigentafel: FC Bayern II gegen BV Cloppenburg 2:2. Die Leere des Fußballplatzes der Sportanlage Aschheim ist wie das Resultat: Lässt viel Raum für Deutungen. Es war mehr drin.
„Ich kann nicht verlieren“
Kurz vor Abpfiff hat Anja Pfluger einen Konter entscheidend geblockt, sie forderte in jeder Situation den Ball und versuchte, die Spitzen in Szene zu setzen. Die 26-Jährige gestaltet das Spiel als „Sechser“, auf ihrem Rücken trägt sie die „10“. Figuren wie sie nennt man das Herz ihrer Mannschaft. „Ich kann nicht verlieren“, sagt sie. Das ist oft eine Floskel, doch Pfluger weiß, was es heißt, nie aufzugeben. Der Fußball ist mehr als Wettkampf für sie, ist ihr Antrieb, ihre Leidenschaft. Er half ihr durch die schwersten Phasen ihres Lebens. Zwei Mal erkrankte sie an Leukämie. Ihre größten Siege feierte sie außerhalb der Kreidelinien des Fußballplatzes.
Vor allem die Chemotherapie nach der Rückkehr des Blutkrebses sei hart gewesen, erzählt Pfluger, „die überlebt man nicht zwangsläufig“. Es ist ein warmer Frühlingstag in der Münchner City (Anm.: April 2019). Die Menschen sitzen vor Cafés an der Straße, breiten Picknickdecken am Königsplatz aus, genießen vor dem Museum Brandhorst die Sonne. Wenn eine junge Frau in diesem aufblühenden Stadtleben so nüchtern von ihrem eigenen Tod spricht, ist das ein krasser Kontrast. „Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll“, sagt sie, fast entschuldigend klingt das, aber es ist ja schön, wie locker sie über alles sprechen kann. 40 Prozent überleben die Krankheit nicht, erzählt sie. Damals haben ihr die Ärzte das erst im Nachhinein gesagt. „Vielleicht war das ja besser so“, meint sie und lacht. Auch sie sitzt in einem Café und genießt die Sonne. Wie so viele andere. Doch sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.
Der Fußball als Rettung
Mit 14 Jahren erhält sie die erste niederschmetternde Diagnose, aber der Schock ist beim zweiten Mal noch größer. Pfluger war da zwei Jahre reifer: „Es war endgültiger.“ Die Nachricht hätte zu keinem unglücklicheren Zeitpunkt kommen können: Es sind nur noch wenige Tage bis zu ihrem 16. Geburtstag, gerade wurde sie in die deutsche U17-Nationalmannschaft berufen – „und dann heißt es auf einmal bei einer Routineuntersuchung: Der Krebs ist wieder da.“ Das erste Mal verbrachte sie acht Monate im Krankenhaus. Diesmal kann sie nur eine Knochenmark-Transplantation retten.
Anja Pfluger ist mit 16 eines der größten Talente des deutschen Frauenfußballs. Steffi Jones, ihr Idol, besucht sie im Krankenhaus und lässt sich spontan typisieren. Der DFB ruft zur Spendersuche auf, selbst viele kleinere Vereine beteiligen sich an deren Finanzierung. Kurz vor Weihnachten, einen Monat nach der Diagnose, kommt die Nachricht, dass eine ältere US-Amerikanerin zu ihr passt. Vor zwei Jahren besuchte Pfluger sie in ihrer Wahlheimat Puerto Rico. Bis heute kann sie nicht beschreiben, wie es ist, seinem Lebensretter gegenüberzustehen. Heuer im Februar war der entscheidende Eingriff neun Jahre her. Viel länger hätte man sich damals kaum mehr Zeit lassen dürfen. Sonst säße Anja Pfluger jetzt nicht in der Münchner Frühlingssonne.
„Ich weine verpassten Chancen nicht nach“
Zum Treffen im Café ist sie mit dem Radl gekommen, ihrem liebsten Fortbewegungsmittel, auch raus zum Training auf dem Campus strampelt sie gerne. Vor acht Jahren kam sie vom VfB Friedrichshafen. Ihr Papa habe sie „zum Bayern-Fan erzogen“, erzählt sie, in ihrem Zimmer hingen Poster von Giovane Elber, und als einst die FCB-Frauen im Nachbarort Tettnang ein Testspiel absolvierten, imponierte ihr Melanie Behringer besonders. In ihrem ersten Jahr pendelte sie vier Mal die Woche vom Bodensee nach München, um zuhause das Abi durchzuziehen: „Das war nicht schlimm – so lang ist die Strecke auch wieder nicht.“ Jedenfalls nicht für jemanden, der unfassbar viel weitere Wege gehen musste, um Ziele zu erreichen. Dass sie eine Leistungsträgerin in ihrem Herzensverein werden durfte, ist ihr persönlicher Jackpot, sagt sie. An die erste Mannschaft schnuppert sie immer ran, erst jetzt im Winter flog sie wieder ins Trainingslager nach Doha mit. Es war mehr drin – dieser Satz passt nicht allein zum 2:2 gegen Cloppenburg. Sondern auch zu ihrer Karriere. „Aber ich weine verpassten Chancen nicht nach.“
Urlaub in Frankreich statt WM in Frankreich
In den Junioren-Auswahlmannschaften kickte Pfluger an der Seite von Melanie Leupolz, Leonie Maier, Kathy Hendrich, auch mit Dzsenifer Marozsan kreuzten sich die Wege. In einigen Wochen werden ihre früheren Teamkolleginnen zur WM nach Frankreich fahren, die Münchnerin hingegen hat dann frei. „Ich freue mich jetzt für die anderen mit – mein Weg war nun mal ein anderer“, sagt Anja Pfluger. Vielleicht schaut sie sich ein paar Spiele in Frankreich an: „Ich kann es ja mit einem Urlaub verbinden.“
Im Grunde habe man nie eine Garantie, findet sie: Selbst die größten Talente können auf der Strecke bleiben, nach einem Kreuzbandriss zum Beispiel. Es ist interessant, dass sie ihre Erkrankung mit einer normalen Sportverletzung vergleicht, es passt aber zu ihrer lebensbejahenden Art. Als sie damals zum zweiten Mal ins Krankenhaus musste, war ihr erster Gedanke, dass sie ihr Schulzeug einpacken muss. „Ich habe mich darauf konzentriert, nicht den Anschluss zu verlieren. Wenn du nur daliegst und an den Krebs denkst, bringt dich das auch nicht weiter.“ Ihre Lehrer kamen sogar zu ihr nach Hause, um sie in Deutsch, Mathe und Englisch auf dem Laufenden zu halten. „Und wenn ich konnte, habe ich immer im Garten gekickt.“
„Ich musste zwei Mal bei Null anfangen – und trotzdem finde ich mich beim FC Bayern wieder“
Bereits nach der ersten Diagnose hatte sie gesagt: „Ich will wieder Fußball spielen, ich komme zurück.“ Andere Kinder hätten vielleicht kein Ziel vor Augen, „ich hatte Glück“, meint die 26-Jährige. Zwei Mal musste sie „bei Null anfangen – und trotzdem finde ich mich beim FC Bayern wieder“. Seit ihrem 21. Lebensjahr gilt sie als komplett geheilt; nach fünf Jahren ohne Rückfall ist die Krankheit überstanden, auch wenn Pfluger weiter alle zwei Jahre zur Kontrolle muss. „Ich bin wieder komplett normal“, sagt sie. Bei dem Wort „normal“ malen ihre Finger Gänsefüßchen in die Luft. Sie lacht.
So viele große Pläne
Wenn so jung schon alles vorbei sein könnte – hat man da noch vor irgendwas Angst? „Es kann eigentlich nichts Schlimmeres mehr kommen“, sagt Pfluger, „aber Angst sollte man grundsätzlich nicht haben.“ Wobei, sie denkt kurz nach, und gibt dann doch zu, dass auch sie noch immer Angst hat: „Vor Schlangen und Krokodilen.“ Da muss sie selber lachen. Ebenso grinst sie bei der Frage, ob die Krankheit ihr Leben verändert habe, ob sie jetzt jedes Training und jedes Spiel noch mehr genieße: Zu klischeehaft, findet sie. „Ganz ehrlich – auch bei mir kommt es vor, dass ich mal eine Konditionseinheit nicht so gerne mag.“ Wie steht es um ihre Träume, was erhofft sie sich vom Leben? „Gesund bleiben“, ist ihre erste Antwort, dann überlegt sie und listet auf: Die Erste Liga wäre ein Traum und mal ins Ausland zu gehen. Auch will sie ihren Doktor in Sportwissenschaften machen, im März gab sie ihre Masterarbeit ab. Und: „Langfristig in München leben, das wäre schön.“
„Man sollte nie vergessen, wie gut es einem geht. Und man sollte viel lachen“
Die Frühlingssonne verliert ihre Kraft, es ist später Nachmittag, und Anja Pfluger sperrt ihr Radl auf, sie muss los, gleich ist noch Training. Für eine letzte Frage ist aber freilich noch Zeit, es ist eine elementare: Was bedeutet „Leben“ für sie? „Alles zu tun, was man tun möchte. Alles verwirklichen, was einem möglich ist. Man sollte das Leben nicht zu selbstverständlich nehmen und nie vergessen, wie gut es einem geht. Und man sollte viel lachen.“ Sonst noch was? „Wenn man etwas gerne machen möchte, sollte man es nicht verschieben. Sondern einfach machen.“ Ihre Geschichte ist längst nicht mehr die, dass mehr drin gewesen wäre. Sondern die, dass alles drin ist, wenn man sich nicht aufgibt.
Zwei Monate nach dem Gespräch mit Säbener 51 hat Anja Pfluger ein weiteres Ziel in ihrem Leben erreicht: Im Mai 2019 holt sie mit ihrer Mannschaft in einem Herzschlagfinale am letzten Spieltag die Meisterschaft der 2. Frauen-Bundesliga.
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