Schon als Kind war Lina Magull Fan des FC Bayern. Heute ist sie die Kapitänin. Ein Traum, wäre kein Corona. In einem persönlichen Buch verarbeitet sie die Pandemie auf ihre Art. Denn Lina Magull ist nicht nur auf dem Fußballplatz kreativ.
Ein Einblick in die Gedanken und Gefühle von Magull - exklusiv aus der aktuellen Ausgabe von Säbener 51 (Bilder: Daniel Delang).
Sie konnten es nicht verstehen: Am nächsten Tag wäre das Finale des Algarve Cups gewesen, doch der Endspielgegner Italien war urplötzlich abgereist. Das Team hätte sonst die Grenzen nicht mehr passieren dürfen. Die DFB-Frauen blieben ratlos in Portugal zurück: Was sollte das denn jetzt, fragte sich unter anderem Lina Magull. „Müssen wir Angst haben? Was passiert gerade?“ Eigentlich war alles perfekt gewesen: Mannschaft in Form, Klima ideal, Unterkunft top, Essen bestens – doch das alljährliche Turnier Anfang März endete diesmal mit einem abrupten Abbruch. Die DFB-Frauen trainierten am Finaltag noch kurz, dann flogen sie heim. Ins Ungewisse.
Die Frage, wie alles weitergeht
Lina Magull sitzt an einem Besprechungstisch auf dem FC Bayern Campus. Es ist ein wolkenverhangener Spätherbsttag, Regen prasselt gegen die Scheiben. Ungemütlich, da reist man gern mal gedanklich zurück in den Frühling an der Algarve; doch in dem Fall lassen einen auch die Erinnerungen frösteln. „Schon krass, was seitdem passiert ist“, sagt die 26-Jährige, und krass auch, wie man damals noch gar nicht wusste, was alles auf die Welt zukommen würde. Es ging so schnell, es war so neu, nie zuvor ist man ja mit einer Pandemie konfrontiert gewesen. Unmittelbar nach der Rückkehr des Nationalteams wurde der Betrieb auf dem Campus eingestellt, die Liga ruhte über Monate. Lina Magull saß plötzlich wie alle ihre Kolleginnen und Kollegen zu Hause und fragte sich, wann der Ball wieder rollen würde, wie denn überhaupt alles weitergehen würde. Eines nachts kam ihr kurz vor dem Einschlafen die Idee, alles in einem Buch zu verarbeiten. Am nächsten Morgen setzte sie sich hin, seitdem protokolliert sie kontinuierlich Gedanken und Gefühle.
Schreiben als Form des Nachdenkens
Was aus dem Buch einmal wird, weiß sie noch nicht, sagt sie, oder besser: Sie weiß noch nicht mal, ob sie wirklich ein Buch herausbringt. Vielleicht fasst sie am Ende einfach alles in einem Format für Familie und Freunde zusammen. Die Grundidee war sowieso, für ihre zwei Nichten in einigen Briefen festzuhalten, was in dieser Welt 2020 alles so passiert. Die beiden Mädchen Lia und Tilda sind noch sehr klein, sie sollen es erst in einigen Jahren lesen. „In erster Linie hilft mir das Schreiben, über alles nachzudenken“, sagt Lina Magull, „ich bin ein Typ, der sich gerne Gedanken macht.“ Zudem hat sie eine kreative Ader; nicht nur auf dem Platz, wo sie in der FCB-Offensive Impulse gibt.
Der wahre Stolz: Ein Bayern-Trikot ihres Lieblings Roy Makaay
Als Lina Magull nur wenige Jahre älter als ihre Nichten heute gewesen ist, lebte sie ihre Faszination Fußball auch schon künstlerisch aus. Sie hatte keine andere Chance, meint sie lachend: „Ich wurde in eine fußballverrückte Familie hineingeboren.“ In Dortmund, und dennoch hatte es ihr der FC Bayern von klein auf angetan, ihre Mama pinselte irgendwann sogar das Klubemblem an die Wand im Kinderzimmer, zudem malte sie die drei adidas-Streifen quer über die Decke. Trotz der Liebe zu den Münchnern schaute Lina oft beim BVB vorbei, im Stadion und auch beim Training, wo sie Autogramme und Fotos mit Christoph Metzelder, Roman Weidenfeller, Sebastian Kehl und Tomas Rosicky sammelte. Zu Hause druckte sie die Bilder aus und klebte sie in Rahmen. Eines der witzigsten Motive: Die kleine Lina neben dem 2,02-Meter-Hünen Jan Koller. Da muss sie heute noch lachen. Natürlich gibt es auch ein paar Pflichtfotos von ihr im Dortmund-Trikot – doch der wahre Stolz war ein FCB-Dress ihres Lieblings Roy Makaay, unterschrieben von allen Münchner Stars. Michael Rummenigge hatte es ihr über seinen Bruder besorgt, man kannte sich aus der Soccer-Halle.
„Ich bin sicher, dass wir das Virus besiegen werden“
Unbeschwerte Zeiten waren das damals, so ganz anders als die, in denen die Kinder aktuell aufwachsen. Draußen trommelt der Regen noch fester gegen die Fensterscheiben, drinnen lässt Lina Magull den Lockdown im Frühjahr Revue passieren. Bis spät abends saß sie mit ihrem Laptop auf dem Balkon, die Nächte wurden zunehmend lauer, und es gab so viel aufzuschreiben. Um das Virus besser greifen zu können, schenkte sie ihm eine Persönlichkeit – und einen Namen. Meteorologen geben Stürmen ja auch Vornamen. „Manchmal frage ich mich, warum etwas so Schreckliches dann so einen schönen Namen hat“, sagt die Münchnerin, sie entschied sich in ihrem Fall für Cornelia. Die Hoffnung ist ja auch ein bisschen, dass Corona wie ein Sturm vorüberzieht – hoffentlich, ohne zu großen Schaden anzurichten. „Ich bin sicher, dass wir das Virus besiegen werden“, sagt Lina Magull. Nur könne man aktuell leider noch nicht sagen, wie lange der Sturm über die Welt tost.
Vor ein paar Jahren stieß sie auf einen wichtigen Satz...
Diese Unsicherheit, wie und wann es weitergeht, hat die Bayern-Frauen während des Lockdowns zunehmend genervt. Im Grunde geht es allen Menschen ja bis heute so, findet Magull, dass man sich fragt, was die Zukunft bringt, obwohl man nicht mal weiß, wie man die Gegenwart einschätzen soll. Vor ein paar Jahren ist sie mal auf einen Satz gestoßen, den sie bis heute beherzigt und der zur aktuellen Situation bestens passt: Nimm jede Herausforderung für dich und dein Umfeld an. „Egal, was passiert: Man sollte sein Leben so gestalten, wie man es sich vorstellt“, sagt sie. „Es gibt immer Herausforderungen, und es liegt an uns, wie wir sie meistern.“
„Wir haben jetzt eine ganz besondere Mannschaft“
Während des Lockdowns haben sie im Team irgendwann begonnen, das Beste aus der Situation herauszuziehen. Wochenlang gab es kaum Informationen, da war kein Licht am Ende des Tunnels. „Aber wir hatten Zeit, mal über uns selbst und uns als Mannschaft nachzudenken“, so die Kapitänin, „in dieser Zeit haben wir uns als Team so richtig gefunden.“ Nach dem Restart griffen alle Mechanismen grandios, und in der neuen Saison startete man durch wie lange nicht mehr. „Wir haben jetzt eine ganz besondere Mannschaft“, sagt Lina Magull. Sie sind zusammengewachsen – und, das auch: zusammen gewachsen.
Engagement für bedürftige Menschen
Vielleicht hilft die Krise den Menschen ja generell, wieder ein wenig mehr den Blick auf die anderen und aufs große Ganze zu richten. Lina Magull ist in dieser Frage optimistisch, und sie selbst ist sowieso ein Typ, dem das Soziale am Herzen liegt. Gleich zu Beginn der Pandemie spendete sie etwas Geld an „WeKickCorona“, die Initiative, die Joshua Kimmich und Leon Goretzka gegründet haben. Zudem meldete sie sich bei einem Internetportal an, das Helfer an bedürftige Menschen vermittelt. Ein paarmal ging sie für eine Frau einkaufen, die sich wegen Corona nicht mehr aus dem Haus traute. Das sei nichts Besonderes gewesen, sagt Lina Magull, so was müsse man ja nicht an die große Glocke hängen. Aber für sie selbst war es wichtig; man merkt, wie umfassend so eine Krise Einzelschicksale beeinflussen kann.
„Jammern hilft nichts“
Hat sie Angst vor Corona? Die 26-Jährige überlegt. Nein, sagt sie, nicht direkt. Sie ist jung, sie passt auf die Ernährung auf und macht viel Sport. „Aber es ist eine tödliche Krankheit, die man keinem wünscht – da darf man in der Gesellschaft nicht leichtsinnig damit umgehen“, sagt sie. Ob sie Angst um den Fußball hat? Schon eher, ein bisschen, ja, sagt sie. „Ohne Zuschauer ist der Fußball anders geworden, und auf Dauer ist das nicht schön.“ Zudem leiden die Finanzen, und man kann sich ausrechnen, wo die Vereine wohl als Erstes den Rotstift ansetzen könnten: in Bereichen wie dem Frauenfußball. Corona kommt in diesem Zusammenhang zur absoluten Unzeit;
Magulls Sparte entwickelte sich zuletzt kontinuierlich – jetzt droht ein Knacks. „Aber jammern hilft nichts“, sagt sie, „wir werden auch diese Herausforderung annehmen.“
Der Ball rollt wieder
Man muss das Positive sehen; das klappte ja schon während des Lockdowns. Lina Magull hat viel gelesen („Dinge, die ich eigentlich schon längst hätte wissen müssen“), lernte backen („gesunde Sachen können auch lecker schmecken“) – und das Zusammenleben auf Probe mit ihrem Partner Luca klappte auch: Er ist inzwischen fest bei ihr eingezogen. Der Ball rollte irgendwann wieder, die Bayern-Frauen eroberten Platz eins in der Tabelle … es klingt alles nach dem Kapitel, das sie im Spätsommer verfasst hat. Überschrift: „Weiterleben, weiterstreben“. In ihrem Buch schreibt Lina Magull dem Virus nach einer Weile eine Charaktereigenschaft zu, die einen ziemlich überrascht: Der Erreger bekommt plötzlich Mitleid. Eine tröstliche Vorstellung – und schöner Stoff für ein paar weitere Buchseiten. Jetzt muss dann nur noch die Realität mitspielen.
Im September besuchte Präsident Hainer die FCB-Frauen um Lina Magull am FC Bayern Campus. Hier gibt es alle Informationen! 👇
Themen dieses Artikels