
Ein frische Herbstabend am FC Bayern Campus, Heimspiel gegen die so stark in die Saison gestarteten Freiburgerinnen. Ein leichter Wind weht durch die Spielstätte im Münchner Norden, die ersten Blätter rauschen im Hintergrund, und dann: die 16. Spielminute. Eine Ecke, von links getreten, scharf, präzise, eine Bahn ziehend durch die klare Münchner Luft. Im Strafraum türmt sich ein Knäuel aus Armen und Körpern, Ellenbogen stoßen, Köpfe ragen, Beine scharren. Und in diesem Moment erhebt sich Vanessa Gilles, als sei sie für genau diese Szene geschaffen. Sie steigt höher als alle anderen, wirkt unerschütterlich, beinahe entrückt. Der Ball trifft ihre Stirn, satt, kompromisslos. Ein Schlag wie aus einer Maschine, zielstrebig, kraftvoll, nicht aufzuhalten. Sekunden später zappelt er im Netz, im langen Eck.
Fundament statt Rampenlicht

Ihre Mitspielerinnen reißen die Arme hoch, stürmen auf sie zu. Doch während sich ringsum Ekstase entlädt, bleibt Gilles’ Jubel vielmehr kontrolliert. Kein einstudiertes Ritual, sondern ein kurzes Lächeln, ein Blick in den Himmel, eine Geste, die eher nach innen spricht als nach außen. Kapitänin Glódis Viggosdottir legt ihre Hand auf den Kopf der Kanadierin, ein stilles, fast zärtliches Zeichen des Respekts. Als wollte sie sagen: Diese Frau hier ist unser Turm in der Brandung. Drei Tore in den ersten vier Bundesliga-Partien, jedes davon aus dem Kopf geboren, jedes davon eine kleines Statement. Und doch: wenige Sekunden später ist Gilles schon wieder auf dem Rückweg in die Defensive, zurück in ihre Rolle, zurück in die Ordnung, die sie so liebt.
Vielleicht ist es genau das, was sie ausmacht. Vanessa Gilles ist keine, die das Rampenlicht sucht. Sie ist keine Spielerin, die ihre Siege inszeniert, keine, die den Lärm braucht, um gesehen zu werden. Sie ist vielmehr das Fundament, eine Konstante, die durch Präzision, Ruhe und Überzeugung wirkt. Und sie ist ein Beweis dafür, dass große Karrieren nicht zwingend früh beginnen müssen. Manchmal beginnen sie gerade deshalb, weil sie spät beginnen.
⚽ In ihren ersten vier Bundesliga-Spielen erzielte Vanessa Gilles bereits drei Tore – allesamt per Kopf:
Zwischen zwei Welten
Denn nichts an ihrem Weg war selbstverständlich. Geboren in Châteauguay im kanadischen Quebec, wuchs sie zwischen zwei Welten auf, der kanadischen und der chinesischen. Ihr Vater arbeitete in der Hotelbranche in Shanghai, sodass sie ihre ersten Lebensjahre fernab ihrer eigentlichen Heimat verbrachte. „In China gab es keinen organisierten Leistungssport für mich“, erzählt sie heute, nicht ohne einen Anflug von Wehmut. Tennis, Basketball, Judo. All jene Sportarten sollte sie in ihrer Kindheit für sich entdecken und ausprobieren. Talent hatte sie reichlich, doch Richtung zunächst keine.
Schon in jenem jungen Alter zeigte sie viele der Charaktereigenschaften, die sie heute auszeichnen, und das nicht ohne Herausforderungen für ihre Eltern. „Sie war kein einfaches Kind“, sagt Mutter Josie Castelli-Gilles lachend, „sehr aktiv, extrem furchtlos. Sie ist niemals gegangen. Sobald sie aufstand, begann sie zu rennen. Unaufhaltsam.“ Ihr Vater Denis ergänzt mit einem Schmunzeln: „Wir haben sie manchmal einfach nur ‚verlieren‘ können.“ Diese Energie prägte ihre frühen Jahre, und legte zugleich den Grundstein für ihre spätere Disziplin und ihren Ehrgeiz. Dort, wo andere längst in Akademien und Förderprogrammen trainierten, probierte sie sich in allem aus. Zurück in Kanada wurde Tennis ihre erste große Leidenschaft, sie spielte schon bald auf nationalem Niveau. Und doch spürte sie ab einem gewissen Grad: „Es ist ein sehr einsamer Sport. Ich mochte das nicht, ich wollte etwas, das ich mit anderen teilen konnte.“
Spätstarterin mit Ehrgeiz

Also wechselte sie, spät, fast zu spät, zum Fußball. Mit 15,16 Jahren erst, einem Alter, in dem andere längst Trophäen sammeln. Anfangs stellte man sie ins Tor, nicht ungewöhnlich für Späteinsteigerinnen, aber für Gilles eine Zwischenstation. „Ich fand es etwas langweilig“, sagt sie lachend, „also bin ich in die Abwehr. Und seitdem hat sich das nicht geändert.“ Sie begann von hinten, holte auf, lernte in Jahren, was andere in Jahrzehnten geübt hatten. „Ich musste doppelt und dreifach arbeiten, um dorthin zu kommen, wo ich heute stehe. Es gibt kein Geheimrezept. Natürlich kann man Talent mitbringen – aber harte Arbeit ist am Ende immer wichtiger und setzt sich durch.“
Vielleicht ist es dieser doppelte Boden, das Bewusstsein, dass sie nichts geschenkt bekam, der sie auch zu einer Denkerin gemacht hat. Denn Vanessa Gilles ist nicht nur Athletin, sie ist auch Akademikerin. Während ihrer Zeit an der University of Cincinnati entschied sie sich für ein Studium der Kriminologie, nachdem Informatik am Trainingsplan gescheitert war. „Vielleicht habe ich einfach zu viel CSI geschaut“, sagt sie augenzwinkernd. Und ehrlich gesagt“, fügt sie schmunzelnd hinzu, „bin ich auch ein bisschen ein Nerd.“

Es war also ein pragmatischer Kompromiss, der ihr trotz der hohen Belastung im Leistungssport einen Ausgleich bot, auch weil sie zum damaligen Zeitpunkt nicht wusste, ob es mit dem Profifußball klappt. „Ich werde das Wissen wahrscheinlich nie beruflich nutzen“, sagt sie, „aber es war mir wichtig, etwas in der Hand zu haben.“ Dieses nüchterne, kluge Kalkül spiegelt ihre Persönlichkeit wider: Bodenständig, vorausschauend und reflektiert. Ein Geist, der in der hektischen, schnelllebigen Welt des Profifußballs nicht selbstverständlich ist.
Limassol, Bordeaux, Lyon, München
So wenig gradlinig wie ihre Studienwahl verlief auch ihr sportlicher Weg. Ihre fußballerische Karriere nahm nicht den klassischen Verlauf über Jugendakademien und renommierte Vereine. Sie begann nicht in Lyon oder Paris, nicht in Toronto oder Vancouver. Ihre erste Station war Apollon Limassol in Zypern, ein Club, den man auf der Landkarte vielleicht zunächst erst suchen muss. Aber Gilles fand dort, was sie brauchte: Spielpraxis, Sichtbarkeit, ein Sprungbrett. Von dort nach Bordeaux, dann weiter nach Lyon, schließlich nach München. „Bayern ist einer der bekanntesten Clubs der Welt“, sagt sie. „Ich wusste sofort: Wenn sich diese Tür öffnet, muss ich hindurchgehen.“ Besonders die Zusammenarbeit mit Trainer José Barcala, den sie bereits aus ihrer Zeit in Bordeaux kennt, ist für sie bis heute eines der entscheidenden Puzzleteile in ihrer Laufbahn. „Er ist wahrscheinlich der Trainer, der meine Karriere am meisten geprägt hat.“
Angekommen beim FCB

Und während andere nach einem Wechsel Zeit brauchen, um sich einzufinden, wirkt es bei ihr, als habe sie in München sofort Wurzeln geschlagen. Heute, wenige Monate nach ihrem Transfer, fühlt sie sich angekommen. Sportlich wie menschlich. „Das Team ist unglaublich nah beieinander. Ich habe noch nie in einer Mannschaft gespielt, in der die Spielerinnen auch außerhalb des Platzes so viel miteinander unternehmen.“ Ein Rückzugsort ist für sie mitunter das Café ihrer Mitspielerin Jovana Damnjanović. „Ich mag es dort unheimlich. Dieser Ort hat Herz. Man spürt die Liebe, die in der Arbeit steckt.“
So fügt sich ein neuer Abschnitt ihrer Karriere in das Gesamtbild ein, das von Konstanten getragen wird: Nähe, Gemeinschaft, Verlässlichkeit. Werte, die auch ihren größten sportlichen Erfolg prägten. Den Olympiasieg 2021 mit Kanada in Tokio. Doch selbst diesen Moment ordnet Gilles in eine größere Perspektive ein. „Natürlich ist es ein unglaubliches Gefühl, als Land und als Team Gold zu gewinnen. Aber genauso wertvoll sind für mich die Freundschaften, die ich dort geschlossen habe. Trophäen sind schön, aber diese Verbindungen bleiben.“ Worte, die viel über sie erzählen: dass Erfolg für sie nicht allein im Ergebnis liegt, sondern in den Beziehungen, die er stiftet.
Es ist diese Haltung, die auch ihre Identität prägt, ein Mosaik aus Kulturen und Erfahrungen, das sie selbstbewusst in sich trägt. „Kanadierin zu sein heißt nicht, nur eine Kultur zu besitzen. Kanada ist ein Land von Immigranten, ein buntes Mosaik.“ Von der etwas lautern, ehrgeizigen Mutter habe sie den Mut, von ihrem analytischen Vater die Struktur. „Ich habe ein bisschen von beiden, und das macht mich offen und reflektiert.“
„Kanadierin zu sein heißt nicht, nur eine Kultur zu besitzen. Kanada ist ein Land von Immigranten, ein buntes Mosaik.”
Vanessa Gilles über ihr Heimatland Kanada
Substanz statt Show
So steht Vanessa Gilles heute nicht nur als Abwehrspielerin im Trikot des FC Bayern auf dem Rasen. Sie steht auch für eine neue Generation von Fußballerinnen. International geprägt, akademisch gebildet, spät gestartet und doch fest etabliert an der Spitze. Sie verkörpert Substanz statt Show, Nachdenken statt Pose, Zusammenarbeit statt Ego. Und vielleicht liegt in dieser Mischung der Grund, warum sie sich so selten ins Rampenlicht drängt. Weil sie weiß, dass am Ende nicht die Pose bleibt, sondern der Eindruck. „Am Ende“, sagt sie, „geht es nicht darum, wo man anfängt. Sondern darum, dass man nie aufhört, besser werden zu wollen.“
Am Montag treffen die FC Bayern Frauen in der ersten DFB-Pokal-Runde auf Borussia Dortmund:
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