Der Kapitän bleibt an Bord! Manuel Neuer hat seinen Vertrag beim FC Bayern bis 2025 verlängert – und das auf den Tag genau einen Monat nach seinem Comeback nach mehrmonatiger Verletzungspause. 350 Tage musste der 37-Jährige warten – zum Jahresendspurt steht die Nummer 1 des FC Bayern endlich wieder im Tor. Aufgeben war nie ein Thema, so Neuer: „Dafür liebe ich es viel zu sehr, Fußballer zu sein.“ Das Vereinsmagazin „51“ blickt in der kommenden Dezember-Ausgabe mit ihm zurück – und nach vorne. 2024 bietet wieder große Ziele!
Die Botschaft ist gewaltig, sie strotzt, das vor allem, vor unbändiger Kraft und vermittelt laut: Widerstand ist zwecklos! „Ich bin grollender Donner, strömender Regen / ich komme rüber wie ein Hurrikan / meine Blitze zucken über den Himmel“… so beginnt der Hit „Hells Bells“ der Rockband AC/DC. Der Text setzt ein nach Schlägen einer Glocke und legt sich über wilde Gitarrenriffe. Man kann kaum glauben, dass dieses musikalische Blitzlichtgewitter einst auf den doch eher in sich ruhenden Bahamas aufgenommen wurde – aber andererseits reibt man sich auch die Augen, in welcher Gelassenheit Manuel Neuer konträr zum irren Rhythmus gerade eine Flanke nach der anderen herunterpflückt. Um den Torwart hallt das Crescendo ohrenbetäubend durch die Allianz Arena – aber er geht einfach seinem Job nach: Manuel Neuer, 37, ist zurück im Tor des FC Bayern.
„Aufgeben war nie ein Thema. Ich liebe es einfach, Fußballer zu sein.”
Manuel Neuer
Es ist Samstag, 28. Oktober, noch dauert es eine gute halbe Stunde bis zum Anpfiff gegen Darmstadt – ein historischer Tag. Manuel Neuer steht mit seinen Torwartkollegen bereits auf dem Rasen, um sich warm zu machen. Elf Monate hat er die Rolle des Zuschauers einnehmen müssen, heute hütet er erstmals wieder in einem Pflichtspiel den Kasten des FC Bayern. Um auf Touren zu kommen, hat er sich extra AC/DC gewünscht, wie Stadionsprecher Stephan Lehmann erklärt – das Lied, das in vielen Stadien für Stimmung sorgt und zu dem früher Vitali Klitschko vor seinen WM-Kämpfen im Box-Schwergewicht eingelaufen ist. AC/DC ist benannt nach dem Aufdruck auf einer Nähmaschine, die Initialen stehen im Englischen für Wechselstrom und Gleichstrom. Übertragen auf Manuel Neuer und die Stimmung in einer Fußballarena: Dieser Mann bleibt auch unter Strom cool.
Um 14:49 Uhr hatte Neuer die ersten Schritte zurück ins Rampenlicht gemacht: raus aus der Kabine, die Treppen hoch über die Rampe ins Grüne der Allianz Arena, ein Laufweg, bestens vertraut seit seinem Wechsel 2011 nach München, den er nach seiner Verletzung im vergangenen Dezember so schmerzlich lange nicht nehmen konnte. „Jetzt geht’s los – Fußball ist unser Leben“, donnert in dem Moment sinnig über die Lautsprecher, Neuer umkurvt gut gelaunt ein paar auf dem Rasen liegende Bälle, ehe er am Ende des Slaloms kurz, aber beschwingt in die Kurve winkt. „Er ist wieder da“, schmettert Lehmann ins Mikrofon, es setzt Applaus – übrigens auch für Sven Ulreich, der die Nummer 1 über Monate so exzellent vertreten hat und mit diesem Tag wieder klaglos in die zweite Reihe zurückkehrt.
Was geht in einem Leistungssportler, der noch dazu schon alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gab, in einer der fraglos speziellsten Situationen seiner Laufbahn vor? Um Manuel Neuer dröhnen Höllenglocken, doch sein Gesicht ist eine undurchdringliche Maske: Konzentration pur. Hinter ihm liegen elf Monate, über die die Ärzte des FC Bayern sagen, dass es eine ganze besondere Willenskraft verlangt hat, sie zu überstehen.
Whatsapp an die Kollegen
Jochen Hahne erinnert sich noch genau, wie am 9. Dezember das Display seines Smartphones mit dem Anruf von Manuel Neuer aufgeleuchtet hat. Es war ein Freitag, der Mannschaftsarzt des FC Bayern saß gerade im Auto, und bereits zwischen den Zeilen las der Doc aus dem Bericht des Torwarts heraus, dass da was Größeres passiert ist. Neuer liegt verletzt auf der Skipiste am Roßkopf, seinem Hausberg am Tegernsee. Hahne rät eindringlich, bloß nicht noch selbstständig ins Tal zu fahren, per Hubschrauber geht es in die Klinik nach Murnau. „Die Erstversorgung spielt eine immense Rolle“, erklärt Peter Ueblacker, mit Hahne Teamarzt des FCB. Neuer erzählt im Rückblick, er sei die ganze Zeit optimistisch gewesen, die Schmerzen habe er runtergespielt. Aber als ihm in Murnau der Skischuh abgenommen wird, wird das Ausmaß ersichtlich. Der ganze Unterschenkel ist gebrochen, Schien- und Wadenbein. „Es ist die schwerste Verletzung seit Jahrzehnten, die wir hier im Zusammenhang mit Profifußball gesehen haben“, schildert Ueblacker.
Manuel Neuer hat das alles vor seinem Comeback gründlich aufgearbeitet; Schritt für Schritt ging er seine Leidenszeit im Rahmen einer Dokumentation der FC Bayern Club Medien durch. Er sitzt da allein vor der Kamera im Studio unterhalb der Säbener Straße, das Maße einer mittelgroßen Turnhalle hat und bei dieser Produktion spärlich ausgeleuchtet wurde: Man bekommt ein Gespür dafür, wie einsam sich Leistungssportler in einer Reha fühlen können, wie einsam es womöglich auch mal in einem Tor ist – und wie stark dieser Manuel Neuer all dem trotzt. Gleich nach dem Vorfall habe er eine Whatsapp in den Chat der Mannschaft geschickt und sich entschuldigt, erzählt er: „Es tat mir leid für das Team und den gesamten Club. Es ist dann einiges passiert in der Saison – und ich konnte nicht da sein. Wenn du als Athlet verletzt bist, bist du ohnmächtig.“
Es sind jetzt nur noch Augenblicke bis zum Anpfiff gegen Darmstadt. Auf den letzten Metern zurück in seinen natürlichen Lebensraum, den 16er, steckt Neuer die Köpfe mit Matthijs de Ligt zusammen, dann läuft Joshua Kimmich extra zurück zu ihm, um ein letztes Mal abzuklatschen. Am Tor angekommen, berührt Neuer beide Pfosten und die Latte, ein Ritual des Ankommens. Beim Anstoß steht er am äußersten Rand seines Strafraums – zurück im Spiel, näher drin am Geschehen geht nicht mehr. Der erste Ball rollt vom Mittelkreis direkt nach hinten zu ihm, seine erste Amtshandlung ist dann ein langer Pass auf Harry Kane. Noch vor wenigen Wochen hatte er einen Schmerz in der Wade „wie von einem Messerstich“ gespürt, wenn er die Kugel bloß drei oder fünf Meter weit kicken wollte.
Eine Reha und die Phasen der Belastbarkeit kann man nie vom ersten Tag an planen, erläutert Ueblacker in der Dokumentation. Wegen der Schmerzen in der Wade hatte man sich gemeinsam mit den Operateuren im August beispielsweise noch einmal zu einem kleinen Eingriff entschlossen, um Metall zu entfernen. Neuer nennt das „einen kleinen Neustart“, kennzeichnend sei zu jedem Zeitpunkt das volle Vertrauen in die Mediziner gewesen. Grundsätzlich spreche man von unterschiedlichen Phasen der Heilung, erläutert Ueblacker: Zunächst schaut man auf den Knochen, es geht um Entlastung. Phase zwei bedeutet, überhaupt wieder gehen zu können – Neuer wurde bereits bei seinen ersten Schritten auf dem Laufband penibel von Fitnesstrainer Thomas Wilhelmi und Physio Knut Stamer beobachtet. In Phase drei wird die Muskulatur angesteuert, ehe in Phase vier das Laufen gelernt wird – unter anderem auf einem Antischwerkraftlaufband, um das belastende Körpergewicht erst langsam zu steigern. „Ich wollte jeden Schritt gehen“, sagt Neuer, „und ohne Vertrauen kann man nicht zurückkommen.“
Auch auf dem Platz muss man sich aufeinander verlassen können. Bastian Schweinsteiger sagte mal, Manuel Neuer sei der wichtigste Mitspieler in seiner ganzen Karriere gewesen – weil man mit ihm im Tor immer noch mehr Sicherheit im eigenen Spiel hat. Gegen Darmstadt ist die Nummer 1 in der ersten Halbzeit einmal in einer gefährlichen 1:1-Situation gefordert – es bleibt zunächst beim 0:0. Das Comebackspiel hätte insgesamt kaum turbulenter starten können: Kimmich ist bereits nach wenigen Minuten mit Rot vom Platz geflogen, Trainer Thomas Tuchel ruft Neuer daraufhin unmittelbar zur Konsultation an die Bank, per Zettel gibt es Instruktionen. Neuer steht bei eigenen Ecken zeitweise an der Mittellinie. Ein Aufpasser mit Blick aufs große Ganze. Es war immer sein Antrieb, „endlich wieder meine Spieler vor mir im Spiel zu sehen“, sagt er, „aufgeben war nie ein Thema. Ich liebe es einfach, Fußballer zu sein.“
„Ich weiß, dass da noch Großes kommen kann. Das ist der Anspruch, den ich an mich selber habe.”
Manuel Neuer
Grinsen mit Grashalmen
Es gibt Videos von einer seiner ersten Einheiten nach der Verletzung draußen auf dem Trainingsplatz an der Säbener Straße, Anfang Mai. Ein grauer Tag, es regnet, Torwarttrainer Michael Rechner schießt Bälle aufs Tor und lobt jede Parade: Der Patient ist offensichtlich in Form. Als Neuer zum Duschen geht, klebt sein Haar in nassen Strähnen auf dem Kopf, sein Gesicht geziert von Grashalmen – und einem breiten, glücklichen Grinsen. „Der eine oder andere hätte bei so einer Verletzung vielleicht gesagt: Ich habe ein gewisses Alter, habe schon viel erreicht und bin zufrieden mit meiner Karriere“, erzählt der 37-Jährige. „Und natürlich bin ich zufrieden mit meiner Karriere – aber ich weiß, dass da noch Großes kommen kann. Das ist der Anspruch, den ich an mich selber habe.“ Tuchel sagt über seinen Torwart: „Ich bewundere ihn. Manuel war vom ersten Tag an so klar, dass er sein Ziel verfolgt, und er hat es unbeirrt durchgezogen.“ Am 28. September trainierte Neuer erstmals wieder mit der Mannschaft – und gab gleich vor dem Start der Übungseinheit wieder die ersten Kommandos: Bitte den Platz vor dem Tor noch einmal wässern. Kommentar Kimmich: „Bist du wieder am Start? Endlich, endlich, endlich!“
In der zweiten Hälfte nehmen die Bayern gegen dezimierte Darmstädter (beim Gegner hat es zwei Platzverweise gesetzt) Fahrt auf – am Ende schießen Kane und Kollegen sagenhafte acht Treffer binnen 38 Minuten. Neuer reckt bei jedem Tor die Fäuste in die Luft, schraubt sich jubelnd vor der Kurve in die Höhe, klatscht die Gefährten ab, die sich neben seinem Kasten aufwärmen: Thomas Müller umarmt er, Brust an Brust mit Eric Maxim Choupo-Moting, dazu Shakehands mit Bouna Sarr sowie den jungen Mathys Tel und Aleks Pavlović. Nach jedem Münchner Treffer lässt sich Neuer außerdem einen Ball zuwerfen, den er ein paarmal auftippt und schließlich in hohem Bogen zurückbefördert; es sind seine einzigen nennenswerten Ballkontakte in Hälfte zwei – aber auch sie genießt er; ein Ausdruck von gelebter Konzentration.
Nach der verkorksten WM im vergangenen Dezember sei viel auf die Spieler eingeprasselt – vor allem auf die Leitwölfe, erzählte Neuer im Rückblick auf seinem Stuhl, allein im Dunkel des TV-Studios. Er selbst hatte ja auch nicht geplant, schon so früh wieder zurück in Deutschland zu sein, seinen Urlaub hatte er erst später gebucht. Und so hatte er versucht, die Dinge zu verarbeiten („ich hatte negative Vibes im Kopf“), er ging wandern, joggen – und schließlich mit ein paar erfahrenen Leuten auf eine Skitour. Seit er sechs ist, steht er auf den Brettern, für ihn war der Ausflug eigentlich Routine wie Semmeln holen – „aber dann bin ich da oben hängen geblieben“. Nun, ganz so kann man das nicht stehen lassen: Hängen geblieben ist Neuer da oben auf dem Roßkopf sicher nicht: Er ist ja wieder da.
Es ging Schritt für Schritt vom Berg auf den Fußballplatz. Irgendwann konnte er im Kraftraum eine orangene Softkugel jonglieren, dann waren erste Einheiten mit Minibällen drin, irgendwann hechtete er drinnen hinter verschlossenen Türen so kraftvoll auf Weichbodenmatten, dass Jamal Musiala beim Zuschauen applaudierte: „Du bist bereit, du kommst bald zurück!“ Er habe ein super Team um sich gehabt, sagt Neuer dankbar, und Hahne erinnert sich auch gerne an eine Geschichte am Rande zurück: Gleich zu Beginn kam der Doc immer zum Patienten nach Hause an den Tegernsee, zum Verbandswechsel und um über alles zu sprechen. Während der Feiertage um Weihnachten meinte Neuer, Hahne sollte doch bitte seine Familie mitbringen, wegen der ganzen Umstände. Es gab dann Kaiserschmarrn für alle. „Das zeigt, dass Manu immer auch einen Blick für die anderen hat. Er hatte zu dem Zeitpunkt eigentlich andere Dinge im Kopf“, erzählt der Teamarzt.
Nach dem Abpfiff gegen Darmstadt nimmt sich Neuer zunächst Zeit für einen Plausch mit seinem Gegenüber Marcel Schuhen am Mittelkreis, dann umarmt er Kane, Müller, Schiedsrichter Martin Petersen und schließlich Sven Ulreich. Er streift die Handschuhe ab, ein paar Minuten liegen sie im Niemandsland zwischen 16er und Mittellinie auf dem Rasen, während die Mannschaft vor der Südkurve den Kantersieg feiert. „Super Bayern, super Bayern“, skandiert die rot-weiße Menge. Manuel Neuer ist eingerahmt von Minjae Kim und Matthijs de Ligt, gemeinsam hüpfen die Spieler im Takt zu den Gesängen der Fans. Die Botschaft geht mindestens genauso gut ins Ohr wie AC/DC – und Widerstand gegen den FC Bayern ist sowieso zwecklos. Zumal, wenn Manuel Neuer im Spiel ist.
📺 In unserer Doku könnt Ihr Neuer auf dem Weg zum Comeback begleiten:
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