Die Monstergrätsche, der unhaltbare Strich, das unwiderstehliche Dribbling. Beim FC Bayern gab und gibt es viele Spieler mit speziellen, unverwechselbaren Fähigkeiten. Sie schenken uns unvergessliche Momente. So wie die Pässe, die der vor einem Jahr verstorbene Franz Beckenbauer mit dem Außenrist spielte.
München, 14. April 1976, Rückspiel im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister. Franz Beckenbauers Bayern gegen Real Madrid um Paul Breitner und Günter Netzer. Beckenbauer ist der Fixstern der Mannschaft, der die anderen Top-Stars wie Uli Hoeneß, Gerd Müller und Karl-Heinz Rummenigge zum Leuchten bringt. Immer wieder schickt er den Ball per Außenrist auf eine lange, geschwungene Flugbahn und öffnet so Räume für die schnellen Stürmer. Beckenbauer ist auf dem Spielfeld das, was der Regisseur beim Film ist: „Action!“ – alles hört auf seine stummen Kommandos und folgt seiner Vision, mit den langen Pässen bestimmt er den Rhythmus des Spiels. Es endet nach zwei Müller-Toren mit 2:0 für Bayern. Franz Beckenbauer triumphiert über die Königlichen – und wenige Wochen später gewinnt der FC Bayern zum dritten Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister. Wie hat es der Kaiser nur geschafft, das Spiel mit so viel Eleganz und fast schon provokanter Leichtigkeit zu sezieren?
Beckenbauer: Einen Schritt schneller ins Risiko
Grundvoraussetzung für Beckenbauers 50-Meter-Bälle mit dem Außenrist ist seine Schnelligkeit – in den Beinen und im Kopf. Er sieht Spielsituationen voraus und bewegt sich intuitiv in die richtigen Räume, um sie auf seine Art zu lösen. Und zwar so, dass niemand mitkommt. Das verschafft ihm die Freiheit, seine genialen Pässe zu spielen. Schon seine Grundschullehrerin beschreibt den kleinen Franz als übernatürliche Erscheinung: „Er ist im Turnsaal herumgeschossen, aber er konnte auf einen Schlag anhalten, die Richtung ändern und hat nie jemand angerempelt. Er ist wie ein Blitz zwischen den Kindern herumgelaufen.“ Ein weiterer Faktor: des Kaisers Selbstbewusstsein. Für einen langen Pass muss man den Mut haben, alles auf eine Karte zu setzen. Er kann eine ganze Abwehr knacken – oder beim Gegner landen. Ein Risiko, das Beckenbauer nie gescheut hat.
Ein Pass mit Spezialeffekt: Das Timing ist entscheidend
Großmeister des langen Passes wie Beckenbauer verfügen neben der Risikobereitschaft und der Vision, ein Spiel weiterzuentwickeln, über weitere Skills: über Kreativität und die technischen Fähigkeiten, die Verteidiger auf dem falschen Fuß zu erwischen. Schaut man sich Beckenbauers Pässe aus dem Spiel gegen Real an, versteht man erst in Zeitlupe, was er da genau macht: Er winkelt das Schussbein lange vor dem eigentlichen Kontakt nach innen an, legt ganz viel Gefühl und genau die richtige Kraft ins Fußgelenk und trifft den Ball mit dem Außenrist seitlich und unterhalb der Mitte. Ein Pass mit Spezialeffekt. Der Ball bekommt Effet und fliegt in einer ungeraden, fast kurvigen Flugbahn. Für Verteidiger ist es fast unmöglich, sein Ziel zu erahnen.
Der „Kaiser“ auf der perfekten Position
Entscheidend bei den Außenristpässen ist ganz sicher auch Beckenbauers Rolle auf dem Spielfeld. Es ist Schicksal, dass Trainerpioniere ausgerechnet Mitte der 1960er Jahre einen neuen Spielertypus erfinden, der wie für Beckenbauer gemacht ist: den Libero. Ein Wandler zwischen der Welt der Verteidigung und der des Angriffs, der überall auf dem Platz Überzahlsituationen herstellt. Der Kaiser agiert als „freier Mann“ ohne direkten Gegenspieler und hat das Spiel vor sich. Sein Genie kann sich entfalten, ohne dass ihm 90 Minuten lang jemand hinterherläuft und in die Haxen tritt. Ein gigantisches Glück für den FC Bayern, der unter Beckenbauers Regie eine der glanzvollsten Phasen seiner Geschichte erlebt. Neben den drei Landesmeistercup-Triumphen führt er den Verein zu vier Meisterschaften und vier Pokalsiegen – und dabei machen seine Außenristpässe nicht selten den Unterschied aus.
Der Text erschien in der Januar-Ausgabe des FC Bayern-Mitgliedermagazins „51“:
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