Beim Fußball soll sich niemand ausgeschlossen fühlen. Wie kommen die Spieler des FC Bayern bei nichthörenden Menschen zur Sprache? Unser Fanclub „Red Deaf“ hat Pionierarbeit geleistet und Gebärden für das Team entwickelt – für Doppelpässe mit der Welt, in der sie leben.
Diese Geschichte beginnt mit einem No-Go. Ursprünglich hatte die Redaktion geplant, das aktuelle „51 “-Cover mit dem Titel „Let’s get loud“ zu veröffentlichen. Man hielt das für eine gute Idee, nicht, weil man den Hit von Jennifer Lopez sofort im Ohr hätte, sondern wegen der vielschichtigen Botschaft dieser Titelzeile, man spricht da gerne auch mal von Meta-Ebene. Das Cover sollte auf diese Art alle abholen, sollte ausdrücken, dass man jetzt gemeinsam laut werden möchte, um Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, das in der Gesellschaft leider zu selten Gehör findet. Die gut gemeinte Idee wird jedoch gleich beim ersten Treffen mit dem Fanclub „Red Deaf FC Bayern“ so charmant wie deutlich pulverisiert.
Das Cover mit Serge Gnabry sei super, so die Vorsitzende Martina Bechtold und die Fanclub-Mitglieder begeistert – aber ob man die Zeile bitte ändern könnte? Sie fühle sich, um ehrlich zu sein, diskriminierend an. „Wir verstehen, was mit der Aussage bewirkt werden soll“, übersetzt Gebärdensprachdolmetscher Daniel Rose, „aber es geht uns um die Perspektive. Laut ist für Gehörlose ein schweres Wort – für uns gibt es das Wort nicht. Wir können ja nicht hören.“
Damit ist die Ursprungsidee natürlich erledigt, einhergehend mit Entschuldigungen der Redakteure, die Micky an der Seite der Fanclubvorsitzenden Martina lächelnd wegwischt: „Nur keine Unsicherheiten, bitte! Wir sind locker – es gibt keine Fettnäpfchen.“ Die Sache sei nun einmal so, erklärt er: „Wir, wirleben in einer hörenden Welt – aber niemand lebt in unserer Welt. Ihr könnt uns alles fragen, was ihr wollt. Die Wahrheit ist, dass es überhaupt schön ist, dass wir hier zusammensitzen und miteinander kommunizieren, und dass wir gemeinsam ein tolles Projekt umsetzen dürfen. Wir sind ein Teil davon. So fühlt sich die FC Bayern-Familie an!“
„Wir leben in einer hörenden Welt – aber niemand lebt in unserer Welt.”
Micky Meincke
Es ist ein Freitagnachmittag an der Säbener Straße. Gebärdensprachdolmetscher Daniel leistet über drei Stunden Außergewöhnliches: Unermüdlich macht er mit seinen Gesten Grenzen sichtbar – und baut sie gleichzeitig ab. Es sind zwei Welten, die der nichthörenden und der hörenden Menschen, viel zu selten gibt es solche Zusammentreffen, da sind ungewollte Fauxpas nahezu zwangsläufig. Der Großteil der Konversation läuft an diesem Nachmittag tonlos – und ist vielleicht gerade deshalb umso ausdrucksstärker.
Martina Bechtold und eine Gruppe nichthörender Menschen haben auf Vermittlung von Kim Krämer, dem an diesem Nachmittag ebenfalls anwesenden Behindertenfanbeauftragten des Clubs, über mehrere Monate hinweg die Namen der Spieler des FC Bayern in Gebärdensprache entwickelt. „Heute bin ich wieder einmal sehr, sehr stolz auf meinen FC Bayern“, sagt Stefan, der schon als Kind, damals lebte er noch in Nordrhein-Westfalen, Fan der Roten war: „Wir durften dieses Projekt auf eigenen Beinen umsetzen, das bedeutet uns sehr, sehr viel. Deswegen ist der FC Bayern der FC Bayern.“ Bisher mussten sie die Spieler in Gebärdenzeichen buchstabieren, künftig wird es eigene Namen geben, die auch hörende Fans leicht lernen können – was den Austausch erleichtern beziehungsweise überhaupt erst in einem gewissen Rahmen ermöglichen würde. „Mir geht das Herz auf“, lässt Stefan übersetzen, „ich habe heute Gänsehaut.“ Da geht es nicht nur ihm so.
Start mit WhatsApp-Gruppe
Anfangs haben sie eine WhatsApp-Gruppe gegründet und über Videonachrichten begonnen, die Namen auszutüfteln. Die Recherchen führten unter anderem durchs Internet und auf die Social-Media-Kanäle der Spieler, sie studierten die Spiele im Fernsehen oder Stadion und blätterten eifrig die Zeitungen durch. Oft orientiert sich die Gebärdensprache an der äußeren Erscheinung, erklärt Rudi, der, wenn er sich vorstellt, über seinen Spitzbart streicht – und ihn daher nie abrasieren wird. Allerdings hatten sie sich vorgenommen, auch die sportlichen Charaktereigenschaften einfließen zu lassen, um abwechslungsreichere und markantere Bilder zu entwickeln. Zu Beginn des Jahres trafen sie sich dann persönlich im Gehörlosenzentrum, um die Vorarbeiten gemeinsam zu finalisieren. Gut drei Stunden nahmen sie sich in diesem Rahmen noch einmal jeden einzelnen Spieler detailliert vor, mit einem Videobeamer auf einer großen Leinwand. Haben sie auch mal gestritten? Nein, haben sie nicht, erzählt Markus und grinst: „Nennen wir es lieber demokratische Uneinigkeiten.“
Am Ende haben sie sich bei jedem Spieler auf einen Entwurf verständigt. Yann Sommer und Thomas Müller waren einfach, weil ihre Namen durch die Jahreszeit und die Berufsbezeichnung bereits festgelegt sind. Bei Sadio Mané übernahm die Gruppe die Gebärde des senegalesischen Sportverbands, „weil er damit schon eine Identität hatte“, wie Micky erklärt. Auch Alphonso Davies ließ sich wegen seiner Schnelligkeit leicht charakterisieren, genauso Serge Gnabry und Jamal Musiala durch ihre Jubelgesten oder Kingsley Coman, der so flinke Kreisel dreht. Ein paar Spielernamen sind noch nicht final, bei Dayot Upamecano ist die Geste „Verteidigung“ momentan ein Platzhalter, bei Leroy Sané liegen einige Alternativen vor. Die Spieler d ürfen am Ende auch widersprechen.
„Sollte einer mit seiner Gebärde nicht einverstanden sein, überlegen wir uns eine andere“, stellt Martina klar, und bei einem Neuzugang wie Daley Blind lassen sie sich ohnehin noch Zeit, um seine speziellen Charakteristika herauszufiltern. Der Niederländer ist generell ein gutes Beispiel, dass sich auch die Gebärdensprache weiterentwickelt: Bis vor Kurzem, erklärt Toni, hätte man in diesem Fall einfach die Geste für „blind“ im Sinne von nicht sehend verwendet. Doch die Welt sensibilisiert sich zunehmend für Diskriminierungen, auch Rassismus ist bei den Gehörlosen ein wichtiges Thema, da man sich aus verständlichen Gründen lange auf phänotypische Merkmale konzentrieren musste. „Genauso wie die gesprochene Sprache entwickelt sich unsere Gebärdensprache weiter“, erklärt Micky, „wir leben in einer Zeit, in der die Menschen sich viele Dinge bewusster machen. Ich finde es gut, dass wir heute politische Korrektheit besprechen und natürlich auch berücksichtigen.“
Obwohl es in der Gebärdensprache kein offizielles Copyright gibt, sollten die Namen der Gruppe um Martina für die Bayern-Profis künftig überall gelten, lautet die einhellige Meinung beim Thema Deutungshoheit. Es gibt Dialekte und nicht zuletzt internationale Unterschiede, und oft kommt es auf die Perspektive an (ein Dortmund-Fan hat auf den deutschen Rekordmeister einen anderen Blickwinkel als ein Anhänger der Roten) – aber Gebärden, die von Fans des FC Bayern für ihre eigenen Spieler entwickelt wurden, stellen ein unanfechtbares Statement dar, das anerkannt werden sollte. „Wir geben unseren Spielern damit eine Identität in unserer Sprache“, erklärt Markus, „der FC Bayern ist unser Verein, also sollte auch unsere Sprache gelten.“ Im nächsten Schritt werden sie sich auch dem Frauenfußball-Team sowie den FC Bayern Basketballern widmen.
„Wir geben unseren Spielern eine Identität in unserer Sprache.”
Markus Posset
Denkbar wäre, die Gebärden-Namen künftig beim Aufrufen der Mannschaftsaufstellung vor jedem Spiel über die Videowände zu zeigen. Ein paar praktische Tipps zur generellen Kommunikation zwischen den Fans aus beiden Welten gibt Toni: Der Gebärdenraum liegt wie ein Bildschirm zwischen dem Kopf und dem Bauchnabel. Hier spielt sich alles ab, man spricht grundsätzlich mit, da auch dem Mundbild eine Rolle zukommt, und niemals sollte man gegen das Licht arbeiten, merkt Martina an, das erschwert die Sicht. Nuancen sind oft entscheidend, erklärt Stefan: Bei Yann Sommer sollte man zum Beispiel auch einen sommerlichen Gesichtsausdruck zeigen, sonst bedeutet die Geste etwas anderes. Generell sind Gehörlose gute Beobachter. Bei Joshua Kimmich machte Rudi eines Tages aus, dass er oft eine Augenbraue hebt. Das ist auch den anderen lange nicht aufgefallen, aber sie gaben ihm recht. So entstand der Gebärdenname des Mittelfeldmotors.
Vibrationen im Stadion
Die feinen Antennen als Beobachter benötigen nichthörende Menschen notgedrungen auch beim Stadionbesuch. Es ist unmöglich, sich in diese spezielle Stille des Raumes hineinzuversetzen – wie fühlt es sich für sie an, wenn Martina und die anderen in der Allianz Arena sind? „Wenn wir nah an der Südkurve sitzen und die Fans dort Theater machen, spüren wir die Vibrationen“, schildert Markus, „das ist sehr, sehr gut – wir merken: Da passiert was!“ Das Gespräch ist nun in einem sensiblen Bereich, es geht um Wahrnehmung und den Wunsch nach gegenseitigem Verständnis. Wenn die Fans singen „Steht auf, wenn ihr Bayern seid!“, stehen alle auf – „aber wir wissen nicht, warum alle aufstehen“, führt Markus weiter aus, „da entsteht ein Gefühl, ausgegrenzt zu sein“. Gleiches gelte bei sämtlichen Stadiondurchsagen rund um das Spiel und auch für die Clips auf der Anzeigetafel: „Wir wollen das alles ebenfalls verstehen, ob nun Ankündigungen zum Thema Pyrotechnik oder die Werbung in der Halbzeitpause: Hörende Menschen können entscheiden, ob sie zuhören oder nicht. Genau diese Wahl hätten wir auch gerne.“ Stefan gibt ein weiteres Beispiel: „Schießt Serge Gnabry ein Tor, schreien alle im Stadion seinen Namen – dadurch, dass wir nun auch ein Zeichen für ihn haben, können wir auf unsere Art mitjubeln. Wir fühlen uns mehr als Teil der Menge. Und wenn andere das Zeichen auch noch übernehmen würden, würde ein Zusammengehörigkeitsgefühl wachsen. Wir sind nicht stumm.“
„Wir wollen dorthin, wo wir Stimmung bekommen.”
Martina Bechtold
97 Mitglieder zählt der 2005 gegründete Fanclub „Red Deaf FC Bayern“ aktuell. Sie sind über ganz Deutschland verstreut, Mitglied kann jeder unkompliziert über die eigene Homepage werden. Einmal im Jahr gibt es eine Mitgliederversammlung, alle zwei Jahre wird der Vorstand gewählt, Martina führt seit zehn Jahren Regie. Bei Heimspielen haben sie einen eigenen Tisch im Paulaner Treff, hier schauen auch immer wieder gehörlose Fans der Gästemannschaften vorbei, weil man viele freundschaftliche Kontakte pflegt – Markus bietet sogar Führungen durch das Vereinsmuseum an, und bei Auswärtsreisen besucht man sich gegenseitig. Längst nicht alles dreht sich bei diesen Treffen nur um Fußball, erzählt Martina, sie gehen auch gemeinsam zum Wandern in die Berge (manche in Trikot und Tracht), neulich waren sie beim Bowlen, und ihre Weihnachtsfeiern finden immer an anderen Orten statt, weil sie gerne mal was Neues sehen. „Das Gemeinschaftliche steht bei uns sehr im Mittelpunkt“, erzählt Martina, „wir wollen auch gesellschaftliche Kontakte und dorthin gehen, wo wir Stimmung mitbekommen.“
Ein Highlight ist in dieser Hinsicht immer die Jahreshauptversammlung des FC Bayern, denn anders als bei anderen Vereinen, bei denen die gehörlosen Fans teilweise mit einem Dolmetscher im Nebenzimmer das Geschehen verfolgen müssen, haben sie Plätze in der ersten Reihe, und Daniel übersetzt mit Kolleginnen und Kollegen alles, was Präsident Herbert Hainer, der Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn und die weiteren Mitglieder der Führungsetage auf der Bühne sagen. Stefan schwärmt davon, wie Uli Hoeneß ein paar Plätze neben ihnen sitzt, keine fünf Meter entfernt – „und dass wir mitten im Saal die ganze Atmosphäre erleben können. Es ist schön, dass wir da nicht irgendwo nach hinten abgeschoben werden.“ Die USA und eigentlich ganz Europa seien bei diesem Thema viel weiter als Deutschland, sagt Micky, umso schöner sei, dass die FCB-Jahreshauptversammlung ein gutes Beispiel für gelebte Inklusion ist: „Der FC Bayern ist ein sehr sozialer Verein.“
Gemeinsame Sprachebene
Denn darum geht es letztlich jedem Menschen: Nicht ausgeschlossen zu sein. Wahrgenommen zu werden. Gesehen, gehört zu werden. Micky liebt es, nach dem Abpfiff in der Allianz Arena die Gesichter der Fans zu studieren: diese Freude, dieses Glück nach einem Sieg und diese Emotionen nach einer Niederlage, die er genauso durchlebt. Markus erzählt, dass er nach einem verlorenen Spiel tagelang keine Zeitung liest. Man fühlt sich einfach verbunden, wenn es um den FC Bayern geht, frustriert ist der hörende wie der nichthörende Fan gleichermaßen. Rudi macht am Ende des Gesprächs eine Gebärde, die das „Mia san mia“ ausdrücken soll. Sein ausgestreckter Zeigefinger bewegt sich dabei vor der Brust – auf der Höhe, wo das Herz schlägt. Rudi benützt dabei die hochdeutsche Formulierung analog zu „Wir sind wir“ – aber der Fanclub hat sich vorgenommen, auch hier in den nächsten Monaten noch eine eigene Gebärde zu entwickeln. Eine, die das bayerische Selbstverständnis ausdrückt, die Club-Identität spiegelt und für eine Fußball-Familie steht, aus der niemand ausgeschlossen ist, in der man sich alles sagen kann, weil es nun auch eine gemeinsame Sprachebene gibt – und mit der Zeit immer weniger No-Gos.
© Bilder: Peter Schreiber, Hannes Rohrer, Sebastian Gabriel, Roman Lang
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Mitgliedermagazins „51“ erschienen.
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