
Fünf Jahre gab Lúcio in der Abwehr des FC Bayern den Ton an, ehe er zu Inter Mailand ging. Mit Inter gewann er die Champions League – ausgerechnet gegen den FCB. Vor der Neuauflage des Duells seiner beiden Ex-Vereine jetzt im Viertelfinale trafen wir den Brasilianer, der bis heute von Uli Hoeneß und Spaziergängen im Schnee schwärmt und noch immer alles für die „Roten“ gibt, wenn er gebraucht wird.
Über die Boxen pulsiert Herzschlag, auf den Rängen wird der Countdown von zehn runter bis zur Startsirene skandiert, der LED-Boden des BMW Park pocht leuchtend, die Legenden des FC Bayern auf der einen sowie die von Borussia Dortmund auf der anderen stehen auf ihren Torlinien, bereit, zum Ball an der Mittellinie zu sprinten. Beim ersten Ton stürmt Lúcio los, schnappt dem schnellsten BVB-Spieler die Kugel weg und donnert sie unter die Latte. Die Fans jubeln. Wenig später halten die Bayern den Pokal der „Infinity League“ von DAZN hoch. Lúcio wird als Spieler des Turniers und als bester Mann im Finale gegen Dortmund ausgezeichnet.

Lúcio ist auch mit 46 Jahren eine Naturgewalt – und da, wenn der FC Bayern ihn braucht. Heute arbeitet der langjährige Innenverteidiger in seiner brasilianischen Heimat in der Immobilienbranche, aber wenn er als Legende das Trikot des deutschen Rekordmeisters trägt, ist es wie eh und je: Es gibt wenige, bei denen Leidenschaft derart physisch ist wie bei Lúcio. Schon im vergangenen Jahr ist er extra zur „Infinity League“ angereist, einem Indoor-Event mit besonderen Show-Elementen, und bei der diesjährigen Auflage hätte er auch für die ebenfalls eingeladenen Legenden-Teams von Inter Mailand oder Juventus Turin auflaufen können, für beide verteidigte er als Aktiver – aber für ihn war klar, dass er die Bayern vertritt. „Ich hatte hier wunderbare fünf Jahre, eine großartige Zeit“, sagt er, „das werde ich nie vergessen.“
„Ich bin stolz, Teil der FC Bayern-Familie zu sein – es waren wunderbare fünf Jahre.”
Lúcio
In den Spielpausen im BMW Park steht Lúcio wie seine Mannschaftskollegen Paulo Sérgio, Diego Contento oder Julia Šimić und Lena Lotzen – auch die FCB-Frauen sind Teil des Teams – Fans geduldig für Autogramme und Selfies zur Verfügung. Für ihn sei der FC Bayern mehr als nur ein Club, erzählt der Brasilianer: „Es ist wirklich eine Familie. Man kümmert sich immer umeinander.“ Besonders Persönlichkeiten wie Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge beeindruckten ihn: „Sie wollen immer nur das Beste für den Verein – und sie wissen genau, was es bedeutet, Bayern-Spieler zu sein.“ Eine Anekdote wird er nie vergessen: Nach einem harten Spiel gegen den Hamburger SV kam Uli Hoeneß einst zu ihm in die Kabine und fragte ihn mit einem Schmunzeln, ob er eigentlich eine Lizenz als Stürmer beantragen wolle. „Ich liebe es, anzugreifen“, antwortete Lúcio, dessen Offensivdrang immer sein besonderes Markenzeichen gewesen ist. Hoeneß lachte: „Solange du hinten alles dichtmachst, kannst du vorne machen, was du willst!“ Lúcio muss grinsen, als er an diese Szene denkt: „Uli ist ein großer Mann. Und er weiß, wie Spieler ticken.“
Mehr München als Copacabana
Sie haben sich alle in München wohlgefühlt – und kommen immer gern, wenn der FC Bayern ruft, erzählt Lúcio mit Blick auf seine Landsleute Sérgio und Giovane Élber, der an diesem Nachmittag als Coach fungiert. „Bei Bayern hast du eine Gemeinschaft, in der sich jeder wohlfühlt.“ Zudem habe ihm die deutsche Mentalität immer gefallen. Ein passendes Bild dazu gibt es vor dem ersten Spiel an diesem Nachmittag: Élber und Sérgio machen das Team heiß. „Heute geht es nicht um Jogo Bonito, um schönes Spiel – sondern um Tore und Gewinnen: Wir sind der FC Bayern“, ruft Élber, und Sérgio ergänzt: „Jogo Bonito ist Copacabana – hier ist München: Erst wenn wir Tore geschossen haben, ist Zeit für Tricks.“ Lúcio lässt sich während der Ansprache die Fußgelenke tapen; sorgfältig, selbst jedes Detail erklärt er dem Betreuer: Auch nach seiner aktiven Karriere überlässt Lúcio nichts dem Zufall. In ihm steckt mehr München als Copacabana.

Das erste Spiel an diesem Nachmittag geht gegen Inter Mailand – ein Vorbote des Champions League-Viertelfinales in wenigen Wochen. Für die Lombarden laufen Javier Zanetti und Esteban Cambiasso auf, die im Mai 2010 mit Lúcio im Finale der Königsklasse in Madrid gegen den FC Bayern auf dem Platz standen. Damals gewann Inter 2:0, diesmal gewinnen die Legenden des deutschen Rekordmeisters. „Es sind zwei große Clubs mit großer Tradition“, sagt Lúcio über die Neuauflage des Duells im April. „Inter ist stark in der Defensive, Bayern ist im Angriff sehr gefährlich“, so seine Analyse. „Die Fans können sich freuen – es werden große Spiele.“ Er habe eine tiefe Verbindung zu beiden Vereinen, erklärt er auf die Frage, wer denn gewinnen würde. Dann lächelt er: „Ich werde dem FC Bayern die Daumen drücken, okay?“
In großen Vereinen wird man erwachsen, sagt Lúcio. Als er nach seinem Wechsel aus Leverkusen seinen ersten Tag an der Säbener Straße hatte, spürte er „riesige Freude, es war eine Ehre – aber auch viel Druck“. Der FC Bayern sei „ein Siegerclub – hier zählt nur zu gewinnen. Ich war sehr stolz, ein Teil davon zu sein.“ Gemeinsam mit dem brasilianischen Nationalverteidiger feierte der Verein 2005, 2006 und 2008 dreimal das Double, dazu zweimal den Gewinn des Ligapokals. „Dieser Verein ist Teil meiner Geschichte“, sagt er. Das Gespräch mit „51“ findet ganz unkompliziert im Kabinengang des BMW Park statt, Lúcio sitzt auf einem Tisch, auf dem für die Spieler Wasser, Energiedrinks sowie Obst paratstehen, und immer wieder muss er kurz unterbrechen, weil Weggefährten für eine Umarmung vorbeikommen: David Trezeguet von Juventus Turin oder auch das Dortmunder Torwart-Idol Roman Weidenfeller.

Lúcio erinnert sich aus seiner Zeit bei Bayern noch immer gern an Bastian Schweinsteiger, den er neben Oliver Kahn am einprägsamsten im Gedächtnis behielt. „Oliver war einer der besten Torhüter in der Geschichte des Fußballs, und er wollte immer gewinnen, sein Ehrgeiz kannte keine Grenzen“, erzählt er. „Und bei Basti konnte man sehen, wie er wächst. Zu ihm ist eine enge Verbindung entstanden. Er hat den FC Bayern gelebt.“ Lúcio habe immer zu ihm gesagt, dass er Weltmeister werden muss – „und dann hat er es 2014 geschafft. Das hat mich sehr gefreut.“ Solche Spieler prägen einen Verein, verleihen Identität, sagt der Brasilianer, genauso Hoeneß und Rummenigge: „Das sind Anführer, auch nach der Karriere, sie behalten ihren Willen, immer oben sein zu wollen.“ Das „Mia san mia“ habe er verinnerlicht, weil es ihm vorgelebt wurde: „In diesem Verein spürst du immer diese Botschaft: Sei motiviert! Gib niemals auf!“ Er habe das in seiner Zeit in München als „große Inspiration“ empfunden.
Spaziergänge im Schnee
Bis heute denkt Lúcio gern an seine Zeit beim deutschen Rekordmeister zurück. Der Winter war eine völlig neue Erfahrung und Herausforderung, doch auch sie nimmt er mit Humor. „Ich habe es geliebt, durch den Schnee zu spazieren. Am Anfang war es ein Schock, aber dann habe ich es genossen.“ Und das Oktoberfest? „Früher habe ich keinen Alkohol getrunken, aber heute genieße ich es umso mehr“, sagt er mit einem Lachen. Bilder von Lúcio in Lederhosen auf der Wiesn sind bis heute Kult unter Bayern-Fans. Kaum ein Innenverteidiger war so offensivfreudig wie er. Seine dynamischen Dribblings bis tief in die gegnerische Hälfte endeten oft mit einem satten Distanzschuss. Bei einem Spiel gegen Hertha BSC gab es mal eine Szene, die ihn bestens skizziert: Lúcio unterläuft ein Fehlpass, doch anstatt aufzugeben, sprintet er dem Gegner hinterher, erobert den Ball zurück, dribbelt über das halbe Feld und schießt wuchtig aufs Tor. „Nach dem Spiel sagte Kahn zu mir: ‚Du bist ein Verteidiger mit der Seele eines Stürmers.‘ Da hatte er recht.“

Eines der emotionalsten Spiele seiner Zeit in München war der legendäre 2:1-Sieg gegen Real Madrid im Achtelfinale der Champions League 2007, so der Brasilianer im Rückblick. Nach dem frühesten Tor der Wettbewerbsgeschichte durch Roy Makaay stemmte sich die Bayern-Abwehr mit aller Kraft gegen den Ansturm der „Königlichen“. Lúcio verteidigte mit all seiner Leidenschaft: „Solche Spiele vergisst du nie.“ Heute verfolgt er zu Hause in Brasilien nach wie vor den internationalen Fußball. Wenn der FC Bayern spielt, sitzt er vor dem Fernseher: „Bayern wird immer ein Teil von mir sein – ich liebe es, das volle Stadion zu sehen, die tollen Fans – ich bin dann immer wieder in Gedanken voll dabei.“ Das sieht man ihm an, in jeder Sekunde, auch heute noch.
Der Text erschien in der aktuellen Ausgabe des Mitglieder-Magazins „51“.
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