Vincent Kompany steckt mitten in seiner ersten Vorbereitung mit dem FC Bayern. Nicht nur auf dem Trainingsplatz erlebt man den neuen Cheftrainer voller Elan, der Belgier taucht tief ein in seinen neuen Club und saugt überall das „Mia san mia“ auf.
Der neue FC Bayern-Trainer
Ein neuer Trainer bedeutet heute auch immer: neue Linien auf dem Trainingsplatz. Louis van Gaal, Jupp Heynckes, Pep Guardiola … Die Bayern-Trainer der letzten 15 Jahre ließen alle verschiedene Zonen auf dem Rasen markieren, mal größere, mal kleinere Vierecke. Thomas Tuchel zuletzt ließ das Spielfeld wie einen Diamanten auf die beiden Tore zuspitzen. Bei Vincent Kompany wird diese Form jetzt noch spitzer. Gestrichelte Linien führen diagonal von jeder äußeren Ecke des Strafraums über die nächstgelegene Ecke des Fünfmeterraums ins Tor. Von oben betrachtet bilden die Linien so in jedem Strafraum ein V. V wie Vincent.
Anfang Juli, fünf Tage vor dem offiziellen Trainingsstart, ist Vincent Kompany da. Nicht nur in Form gestrichelter Linien auf dem Rasen, er betritt das Grün auch persönlich zum ersten Mal als Bayern-Chefcoach. Der Trainingsplatz stand immer im Zentrum seiner Karriere, erst als Spieler und jetzt als Coach. „Fußball ist Arbeit“, sagt er gerne, „viel Arbeit.“ Eigentlich ist noch Urlaubszeit, doch eine Handvoll Spieler ist schon da, Eric Dier etwa, Raphaël Guerreiro oder Sacha Boey. Sie absolvieren ein erstes Training der neuen Saison. Kompany sieht ihnen zu. Er wolle „ein Gefühl“ für seine Spieler entwickeln, sagt er. Gefühl ist ihm wichtig, er wird in seinen ersten Wochen immer wieder davon sprechen. Gefühl ist die Basis für seine Arbeit. Erst Bauch, dann Kopf, so läuft das. Und am Ende soll ein Fußball dabei herauskommen, der wieder für den Bauch ist, etwas Schmackhaftes, mit Temperament und Toren. Und das bei einem Trainer, der früher als Spieler dafür zuständig war, die Angriffe des Gegners zur zerstören. „Ich war mal Verteidiger, aber meine Leidenschaft sind Mannschaften, die bei jeder Gelegenheit Tore schießen wollen“, beschrieb er beim FC Burnley, seiner vorigen Trainerstation, seine Vorstellung von Fußball. Und weiter: „Völlig egal, ob es sich um einen gegnerischen Einwurf oder einen Eckball handelt – wir klären die Situation und schießen auf der anderen Seite ein Tor.“ Die Linien auf dem Rasen geben die Richtung vor.
„Ich möchte ein Gefühl für Bayern bekommen.”
Vincent Kompany
Neue Töne im Training
Dass etwas Neues beim FC Bayern begonnen hat, kann man auch hören. Beim Stretching läuft plötzlich Musik, Wohlfühl-Beats lockern das dröge Warm-up auf. Und danach hört man vor allem: Vincent Kompany. „Be aggressive, boys!“, ruft er. Oder: „Bamm, bamm, bamm, bamm! So wenig Berührungen wie möglich!“ Mal Englisch, mal Deutsch, mal Französisch, je nachdem, an wen er sich gerade richtet. Als Belgier, der in Deutschland und England gespielt hat, ist er da variabel. Entscheidend ist sowieso nicht die Sprache, sondern der Ton. Kompanys Stimme sprengt den Trainingsplatz, sie macht den Fußball, den er sehen will, hörbar: dominant, mutig, offensiv.
Die Arbeit auf dem Platz ist für jeden Cheftrainer am wichtigsten. Darauf liegt der Fokus. Doch in seinen ersten Tagen beim FC Bayern macht Vincent Kompany etwas, was vor ihm noch kein neuer Coach gemacht hat: Er besucht das Clubmuseum. Die übrigen Besucher staunen nicht schlecht, als sie den groß gewachsenen Coach erkennen. Kompany macht gerne ein paar Selfies, aber er ist nicht hier, um selbst im Mittelpunkt zu stehen. Auf der einstündigen Führung hört er aufmerksam zu und stellt viele Fragen. Die Vereinsgründung, die erste Deutsche Meisterschaft, Kurt Landauer, die „goldenen“ 70er Jahre, die Triple, die Trainer, die Trikots, das Frauenteam … Bei einem Modell des Olympiastadions bleibt der 38-Jährige stehen und erinnert sich, dass er selbst darin noch gespielt hat. Im Dezember 2003 lief er mit dem RSC Anderlecht in der Champions League hier auf, Bayern gewann 1:0. „Es war kalt und windig“, erinnert er sich. Das Olympiastadion sei zwar schön anzusehen, aber es sei nicht schön gewesen, darin Fußball zu spielen. Wer unter dem Zeltdach Spiele bei Wind, Frost und Regen mitverfolgt hat, kann ihn verstehen.
Im Lauf seiner langen Spielerkarriere gab es immer wieder Schnittpunkte zwischen Kompany und dem FC Bayern. Als Verteidiger lief er neunmal gegen den deutschen Rekordmeister auf. Der FC Bayern ist daher kein unbekannter Verein für den Belgier. Trotzdem wollte er mehr wissen. „Ich möchte ein Gefühl für Bayern bekommen“, sagt er. Und da sei es doch logisch, im Museum anzufangen, bei den Wurzeln. „Das Museum erklärt, warum der Verein so ist, wie er ist“, sagt er. Die großen Persönlichkeiten des Clubs interessieren ihn besonders. Er zählt auf: Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge. All die großen Spieler hätten eines gemeinsam, meint er: „Dass sie nie gesagt haben, es ist genug. Niemals. Nach einem Titel wollten sie immer den nächsten Titel. Und wenn sie mal verloren haben, haben sie weitergemacht. Die Geschichte des FC Bayern zeigt: Es geht um harte Arbeit, darum, nie nachzulassen.“
Kompany gefällt, was er im Museum erfährt. Vieles erinnere ihn an seinen Heimatclub, meint er. Mit sechs Jahren kam er zum belgischen Rekordmeister RSC Anderlecht, dort wurde ihm 14 Jahre lang eingetrichtert, dass es immer nur ums Gewinnen geht. Anderlechts langjähriger Präsident Constant Vanden Stock sei eine ähnlich starke Vereinsfigur wie Uli Hoeneß beim FC Bayern gewesen. Und da ist noch eine Parallele: Ob er die Geschichte von „Katsche“ Schwarzenbeck kenne? Vincent Kompany grübelt. „Das war doch der starke Verteidiger von Beckenbauer.“ Genau. Und der hatte eine Sternstunde, im Landesmeistercupfinale 1974, zufällig in Brüssel. In der letzten Minute der Verlängerung erzielte er den wichtigen Ausgleich gegen Atlético Madrid. Mit einem Fernschuss aus 20, 25 Metern, obwohl er eigentlich gar nicht schießen durfte. Kompany muss lachen. „Ich weiß, worauf du hinauswillst.“
Kompanys Geschichte
2019 ebnete er Manchester City mit einem Fernschuss gegen Leicester den Weg zum Meistertitel – obwohl ihm Teamkamerad Sergio Agüero noch zurief: „Don’t shoot! No, Vinnie, no!“ Kompany hörte nicht auf ihn und donnerte den Ball aus 25 Metern in den Winkel. City gewann 1:0, verteidigte die Tabellenführung und feierte eine Woche später die Meisterschaft. „Geschichten wie diese zeigen: Wenn du das Gefühl hast, etwas tun zu müssen, dann musst du auch den Mut haben und es tun“, sagt er. „Und noch was: Für den Erfolg sind nicht nur die großen Namen in einer Mannschaft wichtig. Alle sind wichtig. Wenn du was erreichen willst, geht das nur gemeinsam.“
Auf dem Wallberg
Zu Beginn seiner zweiten Trainingswoche sitzt Vincent Kompany mit seinen Assistenten im Mittelkreis auf dem Fußballplatz in Rottach. Das Training ist gerade beendet, die Gruppe unterhält sich entspannt. Hinter ihnen erhebt sich der Wallberg, ein mächtiger Anblick, der Gipfel verschwindet gerade hinter Wolken. Vor genau 20 Jahren ist Felix Magath den Berg mit seinen Spielern hochgelaufen, auch Kompany war oben. Mit seinem Trainerstab wanderte er bis zum Gipfelkreuz in 1.722 Meter Höhe. Die Gruppe übernachtete auf einer Hütte, Gewitternacht in den bayerischen Alpen inklusive, und war rechtzeitig zum Start des Trainingslagers am nächsten Tag zurück im Tal am Tegernsee. „Sie haben mir gesagt, das ist ein kleiner Berg – das ist kein kleiner Berg“, stöhnt Kompany. Er komme doch aus der Stadt. „In Brüssel ist alles flach.“ Das Hochlaufen sei ja ganz okay gewesen, aber das Runtersteigen … „Wenn du 20 Jahre Profi warst, spürst du alles, die Hüfte, die Knie“, erzählt er und lacht.
„Alle sind wichtig. Wenn du was erreichen willst, geht das nur gemeinsam.”
Vincent Kompany
Der Städter aus dem Flachland schont sich nicht. Trotz schwerer Beine verlangt er im Training vollen Einsatz, von sich genauso wie von seiner Mannschaft. Kompany ist ein aktiver Trainer. In Rottach coacht er inmitten seiner Spieler, als sie das richtige Pressingverhalten üben. Wer läuft wann welchen Gegenspieler an? Kompany gibt klare Anweisungen. Später lässt er noch die Strafraumverteidigung in Unterzahl üben. Der Coach wird zum Schatten von Eric Dier, läuft hinter ihm, packt ihn teilweise mit beiden Händen am Oberkörper und führt ihn. Irgendwann gelingt es den Angreifern, ein Tor zu schießen. Dier und Kompany kommen einen Schritt zu spät, können einen Schuss von Minjae Kim nicht blocken. „Minjae!“, ruft Kompany, er ärgert sich und rempelt den Koreaner an. Die beiden sehen sich an und grinsen.
Es ist ein spannender Mix, der unter Vincent Kompany zu beobachten ist. Arbeit und Spaß, laute und leise Töne. Der Trainer weiß, was er will, gleichzeitig entdeckt er viel Neues. Das „Servus“ geht ihm längst wie selbstverständlich über die Lippen. „Es gibt nicht viele Regionen in Europa, die so stolz sind auf ihre Tradition und Identität“, stellt fest. Egal ob als Land oder Club – Bayern ist etwas Besonderes. Kompany fühlt das.
© Fotos: Julian Baumann
Dieser Text stammt aus der aktuellen Ausgabe des FC Bayern Clubmagazins „51“. Hier erschien er in einer leicht gekürzten Fassung.
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