Ende November 2021 jährte sich der 11:1-Sieg des FC Bayern über Borussia Dortmund, der höchste in der Bundesliga-Geschichte des deutschen Rekordmeisters, zum 50. Mal. Im Video (oben) blickt Bayern-Legende „Bulle“ Roth auf das außergewöhnliche Spiel zurück - hier lest ihr, wie der damalige BVB-Keeper den Tag erlebte:
Manchmal kann Vergessen eine Wohltat sein. Oder erinnert sich noch jemand an das Erstrunden-Aus im DFB-Pokal 1990 gegen Weinheim? Oder den zwölften Rang in der Saison 1977/78? Jürgen Rynio ist dies nicht vergönnt. Er hat noch jedes Gegentor genau im Kopf, das er am Abend des 27. November 1971 im Grünwalder Stadion kassiert hat. Das 1:0 in der elften Spielminute, als Gerd Müller im Fünfmeterraum goldrichtig stand; das 2:0 von Uli Hoeneß, der erst am BVB-Torwart scheiterte, im Nachsetzen dann aber doch noch den Ball mit dem Kopf über die Linie brachte; das 6:0 von Franz Beckenbauer: „Er ging durch drei Mann durch und hat ihn mir ins lange Eck geschossen.“ Auch das Gegröle der Zuschauer nach dem neunten Gegentor hat Rynio noch im Ohr. Hinter ihm feixten sie und forderten das zehnte. „Und weil sie so schrien, habe ich mich umgedreht und die Anzeigetafel gesehen. Da dachte ich mir: Da oben ist doch gar kein Platz für ein zweistelliges Ergebnis. Geht das überhaupt?“
Einfallsreichtum an der Anzeigetafel
Es ging, wie sich sechs Minuten später nach dem zehnten Bayern-Treffer durch „Bulle“ Roth herausstellte. Der Tafelmann war offenbar ein findiger Kerl, wie die Fotos von damals überliefern. Irgendwie schaffte er es, die zweite Nummerntafel zwar windschief, aber trotzdem fest anzubringen. Kurz darauf musste er erneut improvisieren, um das Endergebnis anzuzeigen. Drei Einsen für das 11:1 gab es nämlich nicht - kurzerhand funktionierte er eine Sieben zur Eins um, sodass am Ende, wenn man genau hinsah, das Endergebnis sogar mit 71:1 angezeigt wurde. So ein Spiel war eben nicht vorgesehen, auch für die Anzeigetafel nicht.
„Wenn ich sehe, dass Barcelona heute gegen Bayern acht kriegt, war das gar nicht so schlimm.”
Jürgen Rynio
Jürgen Rynio ist inzwischen 73 Jahre alt. Mit dem 11:1 von vor 50 Jahren hat er längst seinen Frieden gemacht. „Wenn ich sehe, dass Barcelona heute gegen Bayern acht kriegt, war das gar nicht so schlimm“, meint er mit einem Schmunzeln. Klar, wenn er sich Aufnahmen von damals anschaut - auch das Internet vergisst nichts -, dann überlegt er schon, ob er irgendwas hätte anders machen können. Ob er anders hätte stehen müssen, den Ball irgendwie anders hätte abwehren können. „Aber ich war die ärmste Sau. Meine Mitspieler standen mir alle vor der Nase rum. Um überhaupt etwas zu sehen, wenn ‚Bulle‘ Roth losgeballert hat, musste ich drei Mann durch die Beine gucken.“ Dazu kamen schlechte Lichtverhältnisse, da das Flutlicht teilweise ausfiel. Bis Rynio den Ball im Blick hatte, war er oft schon hinter ihm eingeschlagen.
Dortmunder Umbruch
Bayern gegen Dortmund war vor 50 Jahren nicht das Duell, wie man es heute kennt. „Ein normales Spiel war das, nichts Besonderes“, sagt Rynio. Kein Clásico, sondern die Partie des Tabellenzweiten gegen den 15. „Eine besondere Rivalität gab es damals nur mit Schalke, so wie bei Bayern mit Sechzig“, erzählt er. Der FCB war ein Spitzenteam, der BVB finanziell gebeutelt. „Der Verein hatte sehr wenig Mittel und Möglichkeiten. Wirtschaftlich war es immer fünf vor zwölf“, erinnert sich der Torhüter. Von der Mannschaft, die eineinhalb Jahre zuvor (1970) in der Bundesliga Fünfter geworden war, war nicht mehr viel übrig. „Im Sommer gab es einen Umbruch. Junge Spieler aus dem Umkreis von Dortmund sind verpflichtet worden“, erinnert sich Rynio. „Wir waren nicht mehr als ein talentierter Haufen. Bayern München dagegen war eine gestandene Mannschaft mit einem eingespielten Gerüst.“ Auf dem Rasen war das nicht zu übersehen. Es spielten nur die Bayern. Beckenbauer, Breitner, Hoeneß, Roth, Müller machten Tempo.
„Wir waren nicht mehr als ein talentierter Haufen. Bayern München dagegen war eine gestandene Mannschaft mit einem eingespielten Gerüst.”
Jürgen Rynio
Schon in den ersten zehn Minuten krachte der Ball zweimal gegen die Querlatte, dann traf Gerd Müller nach einem Hoeneß-Querpass zum ersten Mal. Zur Halbzeit führten die Münchner 4:0. „Wir sind voll reingelaufen. Es ging ratzfatz“, erzählt Rynio. „Wir haben uns fast im Sechzehnmeterraum eingeigelt, hatten überhaupt keine Ordnung. Keiner griff an, alle standen mir nur vor der Nase rum. Wenn die Bayern geschossen haben, wurde der Ball dreimal abgefälscht.“ BVB-Trainer Horst Witzler versuchte, noch in der ersten Halbzeit mit zwei Wechseln - unter anderem musste ein gewisser Werner Lorant vom Platz - seiner Mannschaft neue Impulse zu geben. Vergebens. „Danach waren wir noch offener“, sagt Rynio. In der Halbzeit hieß es: zusammenreißen und vielleicht noch mal rankommen! Der Trainer hoffte noch auf ein achtbares Ergebnis. „Aber wir hatten uns schon aufgegeben. Bayern war zu übermächtig, das war völlig klar.“
Nach dem fünften und sechsten Gegentor sei man dann endgültig auseinandergefallen, sagt der Dortmunder Schlussmann. Daran änderte auch der Ehrentreffer durch Dieter Weinkauff zum zwischenzeitlichen 1:6 nichts. Die Bayern machten einfach weiter, allen voran Gerd Müller. „Der war ja immer ein Albtraum. Ich weiß gar nicht, wie viele Tore er mir reingehauen hat“, grübelt Rynio. Es waren 17 in 14 Spielen, keiner bezwang ihn häufiger. Auch an diesem Abend war der „Bomber“ wieder ehrgeizig wie kein Zweiter. „Bei jedem Schuss hat er nachgesetzt und auf einen Abpraller gehofft. Der stand ständig einen Meter neben mir, sodass wir flachsen konnten“, erinnert sich Rynio. „Irgendeiner von uns, ich weiß nicht mehr wer, sagte zu ihm: ‚Du, Gerd, heut kannste Torschützenkönig werden.‘ Da guckte er nur.“ Nach 90 Minuten hatte Müller viermal getroffen - und hielt am Saisonende tatsächlich die Torjägerkanone (40 Treffer) sowie die Meisterschale in Händen. Uli Hoeneß (2), „Bulle“ Roth (2), Willi Hoffmann, Paul Breitner und Franz Beckenbauer hießen die übrigen FCB-Torschützen. Bei Dortmund lief hingegen gar nichts zusammen. „Es klappte auch über die ganze Saison nichts“, sagt Rynio. „Letztendlich sind wir zu Recht abgestiegen.“
Schmaler Grat für den Torhüter
Für Rynio war es nicht der erste Abstieg. Zuvor war ihm das schon mit dem Karlsruher SC und dem 1. FC Nürnberg passiert, später noch mit dem FC St. Pauli und Hannover 96. Fünf Abstiege machen ihn zum Rekordabsteiger der Bundesliga. „Das ist zwar ein Negativrekord, aber auch der Grund, warum ich noch im Gespräch bin“, meint er. Der 73-Jährige kann mit diesem Siegel umgehen, er weiß, dass er sich nichts vorzuwerfen hat. Als Fußballer, besonders als Torhüter, wandelt man immer wieder auf einem schmalen Grat. Manchmal kommt man mit den Fingerspitzen noch an den Ball, manchmal ist man zu spät dran. So wie 1968, als er zum amtierenden Meister nach Nürnberg wechselte - und mit den Franken ein Jahr später prompt abstieg. „Das war schon hart“, sagt Rynio, der vielleicht wie kein Zweiter weiß, dass es eben nicht nur Sieger geben kann.
Dennoch hat er sich Woche für Woche, Saison für Saison den gegnerischen Stürmern in den Weg gestellt, ist leidenschaftlich durch die Strafräume gehechtet. Selbst als er eigentlich schon im Ruhestand war, ist er noch mal ins Tor zurückgekehrt. Im Februar 1986 bei Hannover 96 war das. Da der Stammtorhüter verletzt war, beorderte Trainer Jörg Berger den Torwarttrainer zurück zwischen die Pfosten. Das nächste Spiel war - natürlich - gegen Bayern. „Ich habe eine Woche trainiert, und es ging eigentlich wieder ganz gut. Im Spiel habe ich auch keinen groben Fehler gemacht - aber wieder fünf gekriegt.“ Das 0:5 war damals die höchste Heimniederlage in der Geschichte Hannovers (inzwischen ist es ein 1:6 gegen Bayern aus dem April 2013). Eine Woche später beim VfB Stuttgart kassierte er sogar sieben Gegentore, darunter drei Strafstöße von einem Spieler (Michael Nushöhr), noch eine ungewollte Bestmarke. Am Saisonende stieg er zum letzten Mal ab.
Gutes Verhältnis zu Bayerns Sepp Maier
Es gab aber nicht nur Abstiege und Negativrekorde in Rynios Karriere. Da war auch die Zweitliga-Meisterschaft mit St. Pauli 1977. Und fast hätte er sogar ein Länderspiel bestritten, wenn es nach Sepp Maier gegangen wäre, ganz bestimmt sogar. Im Mai 1969, bei einem 12:0 in der WM-Qualifikation gegen Zypern in Essen. „Da war ich zweiter Torwart und ich weiß es noch genau: Es stand acht oder neun zu null, da kam Sepp zur Trainerbank gelaufen und hat Helmut Schön aufgefordert, mich einzuwechseln. Sepp wollte, dass ich ein Länderspiel bekomme - aber Schön wollte nicht.“ Mit Sepp Maier verstand er sich blendend, sie teilten sich damals sogar ein Zimmer. Der FC Bayern war für Rynio allerdings fast immer eine schmerzhafte Erfahrung. 40-mal („Um Gottes willen!“) musste er in 15 Spielen den Ball aus dem Tor holen, gegen keinen Gegner häufiger, nur einmal ging er als Sieger vom Platz. Er nahm das aber nie persönlich. „Ich bin zwar Dortmunder, aber man muss anerkennen, wie Bayern wirtschaftet und arbeitet. Das ist vorbildlich. Und der Verein hat auch immer ein Herz für andere“, sagt der 73-Jährige, der heute immer noch in Hannover lebt.
Mit Fußball beschäftigt er sich aber schon lange nur noch als Fan. Seine Leidenschaft gilt längst etwas anderem. Seit inzwischen 19 Jahren - genauso lange wie seine Profikarriere - betreibt Rynio ein Heim für geistig und mehrfach behinderte Menschen. Er hat alles selbst aufgebaut, aus dem Nichts, und etwas gefunden, das ihn nicht mehr loslässt. „Im Fußball hatte ich tolle Erlebnisse“, sagt er, „aber diese Aufgabe ist intensiver, nachhaltiger.“ Dass er mal Fußballprofi war, wissen die Bewohner, erzählt er. Manchmal spielt er mit ihnen draußen auf einer Wiese mit dem Ball. In den letzten knapp zwei Jahren drehte sich aber leider alles um Corona. Es gab einen schweren Ausbruch im Heim, aber irgendwie sind sie da durchgekommen. Es war ein Kraftakt. „In der schlimmsten Zeit hat meine Frau vier Wochen lang in Vollmontur Pflege gemacht, elf Stunden am Tag. Da sind dann elf Gegentore total egal“, meint Rynio, „Fußball ist eben nur die schönste Nebensache der Welt, mehr nicht.“
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